Stopp! Würfelwurf

Esther Boldt, journal frankfurt, 2006-08-22

Theaterrevolutionäre treffen sich zur 6. Sommerakademie im Mousonturm.

War es nun John Lennon, der die Mauer niedergerissen hat, oder war es Ronald Reagan? – „I think all these problems are caused by Yoko Ono.“ – „She died like a thousand years ago.“ Vier Performer sitzen im Halbkreis, hinter jedem eine Stehlampe, die sie selbst an- und ausschalten, während sie sich Satzfragmente zuwerfen. „Revolutionary Timing“, im Mai dieses Jahres in New York entstanden, sieht anders aus als die vorherigen Arbeiten des Künstlernetzwerks andcompany&Co., da seine Elemente nur lose zusammenhängen und die Knotenpunkte live auf der Bühne miteinander verknüpft werden. In einer Improvisation, die klaren Regeln folgt und in hohem Tempo daherkommt, mit dem Charakter eines Spiels, eines Würfelwurfs, zwischen Kommunistischem Manifest, Kaltem Krieg und dem Aufflackern der Popkultur. Aus dem Puzzle unterschiedlicher Textteile ergibt sich plötzlich Sinn wie Unsinn: Wer war schuld am Mauerfall? Woran ist der Kommunismus gescheitert? Zugleich ist es unverkennbar eine andco-Produktion, die bisherige Arbeitsweisen forciert, Tagespolitisches in Sprache und Bild anzitiert und stets auf das Theater zurückverweist. Auf dieser Bühne liegen alle Produktionsprozesse offen, wird auch Licht und Ton als Performance aufgegriffen. Der New Yorker Künstler Noah Fischer dreht an seiner Lichtmaschine aus Stehlampen und nackten Glühbirnen, die in der Tiefe des Raums Erinnerungen aufkeimen lässt, die Schnitte ins Dunkel setzt und Szenen ins Licht: eine Anlehnung an Eisensteins Montagetechnik. Unter dem Titel „Now! Stop“ hat der Mousonturm zur 6. Internationalen Sommerakademie eingeladen, bei der es in Workshops, Lectures und Theaterstücken um Bewegung geht – die primär als künstlerische, politische, soziale aufgegriffen wird, als Potenzial zur Veränderung von Strukturen, Verhaltensweisen, Formen und Zielen. Neben andcompany&Co. wird die Gruppe Superamas zu Gast sein, ebenso zwei Arbeiten der Theaterwissenschaften in Gießen: „Cubox 3:3“ von Mirko Hecktor und Stefan Hölscher ist eine Performance zwischen drei Tänzern und drei Monitoren, bei der Bild und realer Körper miteinander in Konkurrenz treten. Und in Susanne Zauns „Dreckig tanzen oder Schleiertanz bei Kellermanns“ wird der Kultfilm „Dirty Dancing“ zum Bühnenstoff, zu einer Choreografie mit Mädchenchor, Wassermelonen und Megafon. Doch neben dem künstlerischen Nachwuchs sind auch etablierte Theatermacher dort, die sich in den 80er-Jahren mit ihren experimentellen Arbeiten einen Namen gemacht haben, wie die Socìetas Raffaello Sanzio und die Needcompany. Damit schlägt sich im Programm der Sommerakademie auch eine historische Bewegung nieder, vom radikalen Theater der 80er über Performancegruppen der 90er bis in die Gegenwart. (22.08.2006)

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