Deutschland-Dämmerung

Das Berliner Regieteam „andcompany&Co." mit den drei jungen Theatermachern Alexander Karschnia, Nicola Nord und Sascha Sulimma setzte am DT Göttingen seine Uraufführung „Wunderkinder" mit großem Aplomb auf die Bühne. Ein turbulentes, komödiantisches Geschichtsspektakel, in dessen Mittelpunkt die aus dem 1958 (in der damaligen Filmstadt Göttingen) gedrehten „Wir Wunderkinder"-Film entlehnten zwei ungleichen Freunde stehen: Bruno Tiches (Florian Eppinger), der Wendehals, und Hans Boeckel (Gerrit Neuhaus), der Aufrechte. Mal oben, mal unten. Der mit dem Machogebaren bleibt immer oben, der mit dem ehrlichen Doktortitel eher unten. So ist das Leben eben.

Auf der Bühne von Jan Brokof spuckt die dreistöckige schwarz-rot-goldene Box hundert Jahre Geschichte aus, das Publikum rauscht im freien Fall durch die Zeiten. Der Erzähler Wojo von Brouwer bringt, unterstützt von Musiker Hans Kaul, die Kommentare auf den Punkt, arbeitet mit unterschiedlichsten Querbezügen und verblüffenden Reflexionsebenen. Zwischen Melancholie, Witz und Karikatur bleibt nichts unangetastet, nichts unbelacht. Bis ins Heute spinnt das kreative Berliner Kollektiv, das auch die textliche Vorlage entwickelt hat, seinen Faden weiter: Präzise, intelligent und mit großer theatralischer Vielfalt.

Dreizehn Schauspieler, fast alle immer gleichzeitig auf der Bühne, schlüpfen in die unterschiedlichsten Rollen: Der Hitler von Lutz Gebhardt trägt einen halben Schnurrbart und gebärdet sich wie Bruno Ganz in „Der Untergang", der andere Hitler von Karl Miller erturnt sich wie ein chaplinesker Träumer die Weltherrschaft auf einem Gymnastikball. Und wenn der Krieg vorbei ist, liegen die Puppenhäuser umgeklappt auf der Erde, und das Ensemble nimmt am großen Tisch Platz. Ausgeträumt. Schade, dass die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nur kurz gestreift werden: Die Schauspieler tragen Transparente und jonglieren mit Stichworten: Studentenrevolte, RAF, Mauerfall, und die Wendehälse haben es längst geschafft. Da hat man doch schnell eine „Deutschland-Dämmerung", schreit eine Schauspielerin wütend.
Theater, unterhaltsam und politisch wie selten.

Autor

Juliane Sattler

Veröffentlicht

die deutsche bühne, 2011-05-01