HEINER MÜLLER: ALLE ODER KEINER?

Anfang der 1960er schrieb ein westdeutscher Kritiker über den jungen ostdeutschen Erfolgsdramatiker: Der Mann heißt Müller, den Namen wird man sich merken müssen. Ein Niemandsname, ein Jedermann. Richtige Dichter heißen nicht so, sie heißen Hölderlin, Grillparzer, Strittmatter usw. Aber wer weiß, vielleicht war es ja auch ein Künstlername und wir werden seinen echten Namen nie erfahren. Wahrscheinlich war es ein klangvoller Name, ein Name, der so klang, als hätte sich ihn jemand zugelegt, der im bürgerlichen Leben „Heiner Müller“ hieß.Schließlich war es sein Ethos: Arbeit am Verschwinden des Autors ist Widerstand gegen das Verschwinden des Menschen. Nichts ist wichtiger als dies in Zeiten der kybernetischen Kontrolle, wo jede Wirkung auf eine Ursache zurückgeführt wird. Um als feedback selbst wieder zu einer Ursache zu werden. In dieser Ewigen Wiederkehr des Gleichen, die jede Intensität annulliert, aus jedem Ereignis eine Information macht für das System, das jede Abweichung registriert, um sie besser auslöschen zu können, wird eine Strategie gesucht der Anonymität und der Passivität, um weder über Ursachen urteilen zu müssen, noch unter Wirkungen auszuwählen, sondern Energien frei zirkulieren lassen zu können, Intensitäten zu produzieren, unvorhersehbare Ereignisse zu provozieren: ALLE/S DURCHLASSEN! Hitze und Kälte, Bilder, Farben, Sounds, Theoreme, Schreie … Rauschen. Das Schweigen als Sprache notieren. Dieser Rückzug in die Sprachlosigkeit ist ein Fortschritt, meint „Müller“, denn Sprache bedeutet heute Informationsflut, d.h.: Zerstörung von Wahrnehmung und Verhinderung von Erfahrung durch Inflation von Information. Das alles sind Elemente eines Programms zur Auslöschung von Gedächtnis, Erinnerung und Erfahrung. Man delegiert die Erfahrung an die Instrumente. Aber könnte die Kommunikations- und Kontrollgesellschaft nicht auch neue Formen des Widerstands hervorbringen, die einem Kommunismus wieder Chancen geben, fragt Toni Negri in einem Gespräch Gilles Deleuze. Daraufhin Deleuze: Ich weiß nicht, vielleicht. Aber vielleicht sind Wort und Kommunikation verdorben. Vielleicht sind sie völlig vom Geld durchdrungen: nicht zufällig, sondern ihrem Wesen nach. Vielleicht ist eine Abwendung vom Wort nötig. Schöpferisch sein ist stets etwas anderes gewesen als zu kommunizieren. Vielleicht ist es das Wichtigste, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen. NICHT/S DURCHLASSEN! Den Nebel ausweiten. Dunkelheit. Fürs Feuer schreiben. Nicht unsterblich werden wollen. Keats sagte, dass der Dichter ein Chamäleon ist, und Hofmannsthal, dass er kein Ich hat. Und „Müller“? Ich wer? Von wem ist die Rede, wenn von mir die Rede geht? Aber das genügt nicht. Wir alle spielen schließlich Theater. So kommt es zu einer Theatralik von Masken ohne Gesicht: Jede Wirkung ist eine Maske, und wie es keine Ursache gibt, gibt es auch kein Gesicht, nur anonyme Singularitäten. Und sie sprechen im Chor: Wir sind Legion. Wir sind der Virus! Wir vergeben nicht. Wir vergessen nicht. Rechnet mit uns! Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod! (aka)