Wutbürger - ist das was zu essen?

Die Idee, als Grundlage für eine revueartige Deutschlandsatire von andcompany&Co. „Wir Wunderkinder" aus dem Jahre 1957 zu neh­men, eine der erfolgreichsten Produktionen der Göttinger Filmaufbau GmbH, hat sich be­währt: Dank der Initiative des neuen Chef­dramaturgen Lutz Keßler ist am Deutschen Theater Göttingen eine neue andcompany&Co. zu sehen – und doch zugleich die alte, die sich mit ihren anarchischen Erinnerungsabenden („Mausoleum Buffo", „ Little Red (Play): Her­story") ein wachsendes Fanpublikum erspielt hat. Den gemeinschaftlichen Arbeitsstil ha­ben sie ans Stadttheater mitgenommen, auch ihren genauen Sinn für Ton und Rhythmus (Sascha Sulimma), ihre eigentümliche Büh­nenästhetik – das Spiel mit Schrift und Zweidimensionalität, das Brecht schon bei Caspar Neher geliebt hat -, die kindlich scheinenden Requisiten und Zeichen aus Pappmaschee und Sperrholz sowie das reizvolle Spiel mit dem Unperfekten.

Auch diese „Revue" wartet mit quer assoziierendem Denken, unerwarteten Verknüp­fungen, anarchischer Phantasie und alberner Spiellaune auf. Nachdem sie gerade in Sao Paulo und Berlin eine bemerkenswerte deutsch-brasilianische Produktion von Brechts „Fatzer" auf die Beine gebracht haben, ha­ben die Mitglieder von andcompany&Co. in Göttingen zum ersten Mal als Regisseure mit einem Ensemble gearbeitet, standen Alexan­der Karschnia und Nicola Nord nicht selbst mit auf der Bühne. Der Aufführung gelingt es, das Publikum auf eine temponautische Politreise mitzunehmen, bei der alles aus den Zeitfugen ist: Hitler und Sarrazin, Peter Alexander und Lena Meyer-Landrut, Guttenberg und Adenauer. Die Gruppe überrascht immer wieder mit einer Flut schräger Asso­ziationen, erhellender Pointen, Kalauern und unerwarteten Eingebungen: „Wutbürger – ist das was zu essen?" – „Hitler war der erste Wutbürger." – „Hätten die Indianer eine strikte Einwanderungspolitik betrieben und jeden Weißen unverzüglich wieder ins Meer geworfen, dann stünde es heute anders um die indianischen Nationen." Die Revue der andcompany ist ein amüsanter Abend über einen total unamüsierten Blick auf deutsche Ge­schichte, der die 50er-Jahre-Parodie in die Gegenwart ausweitet. Auf der Bühne steht da­für ein Hausgerüst in den Farben der deut­schen Flagge mit einem spießigen Jägerzaun obendrauf (Bühne Jan Brokof).

Wie in allen Arbeiten des Kollektivs wird deut­lich, dass wir nicht in einer friedlich-liberal gestimmten Demokratie angekommen sind, sondern in einer Gesellschaft der scheinheili­gen Macher, der Verbitterung über wachsen­de (und nicht etwa abnehmende) soziale Spal­tungen, in der man sich zunehmend bewusst wird, dass viele Probleme in ihrem Rahmen kaum lösbar sind. Auch die anderen „Tradi­tionen" der Anarchie, des Aufstands, die Er­innerung an den Kommunismus geraten hier nicht aus dem Blick – nicht aber als ideolo­gische Trompetenstöße, sondern als Denk­pausen.

Inmitten der Satire entstehen plötzlich auch Momente, wo das Lied „O mein Papa war eine wunderbare Clown, o mein Papa war eine gro­ße Kinstler …" berührend wirken kann wie ein Menetekel der deutsch-jüdischen Un­glücks- und Mordgeschichte. Ein deutsches 9/11 ist auch dabei, umspielt wird immer wieder der 9. November, deutsches Schicksals­datum: Räterepublik in München, Nazi-Ge­denktag für die gefallenen Kämpfer seit 1933, Reichskristallnacht, Fall der Mauer. Und wie der Zufall spielt, fand an einem 9. November die studentische Demonstration gegen den „Muff von 1000 Jahren" unter den Talaren statt, zündete an einem 9. November eine Bom­be vor dem jüdischen Gemeindehaus in West-Berlin und starb am 9. November 1974 das RAF-Mitglied Holger Meins im Hungerstreik. Das Ganze ist immer wieder vermischt mit erfrischendem Farcenunfug, der mit dem Schwergewicht vieler Themen die Balance hält. So zum Beispiel eine Hitler-Bruno-Ganz-Figur, die mit dem immer gleichen Satz aus dem „Untergang" – „Der Angriff Steiners wird das alles wieder in Ordnung bringen" – zuerst auf Nachrichten vom Zusammenbruch der Frontabschnitte 1945, dann aber auf alle nur denkbaren Themen reagiert: „Mein Füh­rer, umgangssprachlich befinden wir uns im Krieg." – „Der Angriff Steiners wird das al­les wieder in Ordnung bringen." – „Mein Füh­rer, der Doktortitel wurde ihnen wieder aber­kannt." – „Der Angriff Steiners wird das al­les wieder in Ordnung bringen …"

Man kann eine schöne szenische Politik da­rin finden, dass ernsthafte und diskurskom­patible Elemente immer wieder unversehens mit Blödsinn und willkürlich scheinenden An­spielungen verdrahtet sind (wie so oft bei Christoph Schlingensief, einem der Vorbilder für diese Arbeitsweise). Der Wechsel vom Ber­liner Hebbel am Ufer ans Deutsche Theater in Göttingen ist gelungen. Und man ist ge­spannt, wohin der Weg, die Wege dieses ei­gentümlichen Performancekollektivs and­company&Co. von hier aus führen werden.

Autor

Hans-Thies Lehmann

Veröffentlicht

Theater der Zeit, 2011-05-01