Auch ein Einhorn spielt mit - In Schwedt untersucht andcompany&Co feat. Arbeiterinnentheater die Industriegeschichte der Stadt.

Janina Reinsbach, Märkische Oderzeitung, 18.09.2021

Schwedt. Diese Inszenierung ist Schwedt auf den Leib geschneidert. Gleichzeitig bringt sie historische Themen auf den Plan, die weit über Schwedt und die DDR hinausweisen. Da ist das Petrolchemische Kraftwerk (PCK) mit allen technischen und politischen Visionen, seine Mitarbeitenden und ihre individuellen Geschichten. Da ist das Arbeitertheater, das Anfang der 1960er von Gerhardt Winterlich gegründet wurde und für das er 1968 das Erfolgs- Stück „Horizonte“ schrieb, das ein Jahr nach der Uraufführung in Schwedt seinen Weg an die Volksbühne Berlins fand, in Adaption Heiner Müllers. Und da sind erste Ideen zur Kybernetik, zukunftsweisend, ehe sie politischen Wetterwechseln zum Opfer fielen. Mit ihnen kommen Fragen nach der Automatisierung von Produktion durch Computer, Selbstoptimierung, Digitalität, Arbeitswelten und Effizienz. Fragen, die aktueller sind denn je. Die Bühne versetzt das Publikum in einen futuristisch-industriellen Trashtraum. Röhren ragen aus Boden und Wänden. Große, wabenhafte Kuben sind wie Raumkapseln aufgestellt. Eine Projektionsfläche, einige Klappstühle. Darsteller in silbernen, spacigen Anzügen. An den Bühnenrändern drei Stationen voller Schlagwerk, Pulte und Technik. Die elektronische Live-Musik ist sphärisch, dynamisch, viele Klänge und Effekte sind analog erzeugt, obwohl sie elektronisch anmuten. Das Berliner Theaterkollektiv andcompany&Co arbeitet vielschichtig unter Einbindung komplexer, wort-verspielter Texte in digitalen wie realen Bühnenwelten und ohne je die Verbindung zu verlieren. Das Ergebnis ist ein dichtes Netzwerk aus visuellen und Sound-und Text-Elementen, in dem Digitales und Analoges spielerisch kombiniert werden. Alles entwickelt einen unaufdringlichen, absurden Humor. Eine Komik aus Röhren-Dialogen, Adapter-Sozialismus, einem aufblasbaren Einhorn als wunderlichem Zitat aus der ersten Schwedter Inszenierung der „Horizonte“ oder einer ferngesteuerten Wanne, die über die Bühne saust. Dann wieder poetisch ruhige, spektakuläre Bilder aus der Vogelperspektive einer Drohnen- Kamera auf das weite Land und die Industriekulisse Schwedts. Die Mitglieder des historischen Arbeitertheaters geben der Inszenierung ihre besondere Würze. Ob sie nun digital als Video, Hologramm oder erfrischend real in Erscheinung treten, sind es doch ihr Zeugnis, ihr Ton und ihre individuellen Geschichten, die man als festen Boden im komplexen Ideengewebe unter den Füßen spürt. Beim Verlassen des Theaters brennt unübersehbar der Raffinerieturm. Wie eine riesige Fackel führt er die Dramaturgie der Inszenierung fort, sein Widerschein ist noch weithin am Horizont zu sehen.

 

Ein Brief aus New York

Noah Fischer, 2016-11-24

Liebes Berlin,

vor nicht allzu langer Zeit hast du “Lasst sie herein!” gerufen und Deine Arme den Schutz suchenden Geflüchteten entgegen gestreckt. Du standst da wie Lady Liberty, als wärst Du das Amerika Europas! Dann jedoch verdunkelte sich der Himmel und Angst kam auf. Auch hier in New York kauen wir nun angstvoll an den Nägeln während wir dabei zusehen, wie eine faschistische Zukunft auf uns zurollt. Berlin, wir brauchen Deine Solidarität.

Mehr

ANTI-T.I.N.A.

Alexander Karschnia, erschienen im Programm von IMPULSE 2015, 2015-06-09

Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst, d.h. tragisch, aber nicht dramatisch. Historisch gesehen befinden wir uns an einem dead end. Es gibt – nix. Schon gar nicht für die Griechen. (Das macht Griechen aus uns allen.) T.I.N.A. rules: „There is no alternative!“ (Thatcher) Wer das nicht kapiert, hat den Ernst der Lage nicht verstanden. Aber auch das ist nur ein Spiel – ‚deren Spiel‘, das nicht mitzuspielen uns Ken Keasey vor rund 50 Jahren aufgefordert hat. Doch ein andres Spiel braucht auch eine andre Anthropologie, z.B. die von Marcel Mauss. Er sagt: Es gibt – die Gabe. „Die Freude am öffentlichen Geben; das Gefallen an ästhetischem Luxus; das Vergnügen an Gastfreundschaft und des privaten und öffentlichen Festes.“ Den Potlatsch. Eine andre Ökonomie, eine Ökonomie der Verausgabung. Das Leben ist kein Sparguthaben. Kunst hat Teil an dieser Anti-Ökonomie: wahre Kunst gibt, was sie nicht hat. Aber machen das die Banken nicht genauso? Ja, aber sie fordern es mit Zinseszins zurück. Kunst verschwendet sich. Deswegen hasst der Neoliberalismus das Theater so. Die zentrale Botschaft des Theaters – unabhängig von Intention oder Inhalt – lautet: „Es gibt Gesellschaft!“ Genau das bestreitet der Neoliberalismus: „There is no society!“ Natürlich wird auch im Potlatsch eine Gegen-Gabe erwartet. Gibt es also keine reine Gabe? Gibt es immer ein (kapitalistisches) Kalkül? Nein, sagt der anarchistische Anthropologe David Graeber, das sind nur die zwei Seiten derselben falschen Münze: Eigennutz vs. Selbstaufgabe. Doch darum geht es gar nicht – es geht darum, eine Gesellschaft zu erschaffen.
Dazu muss man ein Publikum versammeln und beeindrucken. Letztlich lässt sich also alles auf Theater zurückführen. Es steht damit in der Tradition der Magie: Magie ist performativ, sie glaubt an die Macht von Worten und Gesten. Ein Anti-Fetisch, denn sie beharrt auf der Beeinflussbarkeit der Welt durch Handlungen. Das ist das Geheimnis des Werts. There is – theatre!

PERFORMERISM OR STOP PERFORMING ISMS:

Alexander Karschnia, 2015-02-01

„Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche!“ Dem Slogan der Weltrevolution erging es ähnlich wie seinem Urheber, Ernesto Che Guevara, dessen Name und Konterfei heute Modeartikel (Jeanshosen) und Genussartikel (Zigaretten) ziert, er wurde so oft wiederholt und zitiert, dass sich sein Sound verändert hat: er klingt heute wie das Motto von Motivationstrainern, das Mantra des sog. new managements. Dieses sog. new management ist so neu nicht mehr, der Begriff stammt aus den 80er und v.a. 90er Jahren und wurde vor einiger Zeit zum Gegenstand einer einflussreichen soziologischen Studie: „Der neue Geist des Kapitalismus“ von Boltanski & Chiapello. Verkürzend kann man sagen: Beruhte der alte Geist des Kapitalismus, den Max Weber in einer berühmten Studie untersucht hat, die protestantische Arbeitsethik, auf Triebverzicht (Profit machen ist ok, solange man spart, bzw. Kapital akkumuliert, statt im Luxus zu leben), beruht der neue Geist auf Hedonismus (Schulden machen ist ok, solange man exzessiv konsumiert). Für konservative Moralkritiker ist das eine Folge von ’68 und das stimmt auch – irgendwie: Der Postfordismus ist die Antwort des Kapitals auf die damalige Kulturrevolution – eine Konterrevolution im Wortsinne, die Umwertung aller gegenkulturellen Werte. Im Folgenden geht es mir um solche Revolutionen, Konterrevolutionen und Konterkonterrevolutionen im Wortsinne, also um Umkehrungen – um die Frage: wie kann man Umkehrung umkehren – und zwar indem man Che Guevaras Aufruf folgt, insbesondere dem ersten Teil: „Seien wir realistisch!“ Was heißt das heute, im Zeitalter des globalen Kapitalismus: realistisch sein. Ich werde also über den kapitalistischen Realismus reden (müssen). Zunächst möchte ich aber vorschlagen, Che’s Appell als mustergültigen Ausdruck des Performerismus zu verstehen, also als eine mögliche Antwort auf Lenins alte Frage: Was tun? Mehr

Freies (d.h. freies) Theater

Alexander Karschnia, 2013-03-15

Anmerkungen zu Geschichte und Gegenwart eines Wortes


1968 und die Folgen:

Zur Vorgeschichte der Studentenrevolte gehört die Einladung des liberalen Journalisten Erich Kuby als Gastredner zum 20. Jahrestag der Kapitulation Nazi-Deutschlands durch den AStA der FU Berlin und seine Ausladung durch die Uni-Leitung. Kuby hatte es gewagt, den Uni-Namen dafür zu kritisieren, „dass in dem Worte ‚Freie Universität’ eine innere antithetische Bindung an die andere, die unfreie Universität jenseits des Brandenburger Tores fixiert ist, die für meinen Begriff (…) mit den wissenschaftlichen und pädagogischen Aufgaben einer Universität schlechthin unvereinbar ist.“ Es kam daraufhin zu ersten größeren Protesten der Studenten gegen dieses Hausverbot und zu Aktionen wie auf dem Campus in Berkley, wo gerade das „free speech“- movement begonnen hatte. Mit dem Beginn des sog. „freien Theaters“ in der Bundesrepublik hat das zunächst nichts zu tun, doch kommt keine Diskussion ohne eine Kritik dieser Selbstbezeichnung als „frei“ aus. Zu Zeiten des Kalten Krieges gehörte dieses Wort noch eindeutig zu den Waffen jenes Krieges, die von der Seite des sich selbst so nennenden Westens gegen die andre ins Feld geführt wurde und ideologisch die untrennbare Verknüpfung von parlamentarischer Demokratie und eines Kapitalismus meinte, der ausschließlich als „freie Marktwirtschaft“ bezeichnet werden wollte. Gerade in Westberlin waren daher Bezeichnung wie „Freie Universität“ oder „Freie Volksbühne“ üblich geworden. Doch gerade an diesem Haus (heute das Haus der Berliner Festspiele), das in einer unübersehbaren inneren antithetischen Bindung an die andere, unfreie Volksbühne jenseits des Brandenburger Tors fixiert war, entzündete sich im Zuge der 68er Bewegung der Protest, wurden die Fragen laut nach Demokratisierung oder Mitbestimmung (wie man das später entschärfend genannt hat). Und das war auch gut so. Denn damit erinnerte es an den Ursprung der Volksbühne in der „Freien Bühne“ von 1890 und ihrer Forderung: „Die Kunst dem Volke!“ Dieses Volke war zu jenem Zeitpunkt noch nicht die Gemeinschaft von Prolet- und anderen Ariern, sondern nur der Proletarier, gegen deren Ausgrenzung aus der bürgerlichen Kultur man kämpfte. Und hier verliert sich die Spur des „freien Theaters“ wieder, bzw. verwischt und wird eins mit dem Ursprung des deutschen Stadttheaters, denn genau darum ging es da ja auch – zumindest liest man in letzter Zeit wieder öfters: Das deutsche Stadt- und Staatstheatersystem sei eine soziale und demokratische Errungenschaft der deutschen Arbeiterbewegung, die das Bürgertum an seinen „Traum von einem Nationaltheater“ (Lessing) erinnert habe, in dem alle Stände vertreten sind, den sie einst gegen das aristokratische Hoftheater geträumt hatten. Die letzte Bewegung, die das Bürgertum an seine Träume erinnert hat, war die der Studenten 1968. Diese Behauptung würden wahrscheinlich die meisten der Beteiligten heute unterschreiben, aber dadurch wird sie nicht wahrer. Die Wahrheit ist, dass diese Geschichte so nur in den Niederlanden stimmt: Dort flogen 1969 im Zuge der „Aktie Tomaat“ die Tomaten und änderten den Lauf der Geschichte. Denn in den Niederlanden wurde kurz darauf das gesamte Subventionssystem, das noch keine dreißig Jahre alt war (man hatte es von den deutschen Besatzern übernommen) umgekrempelt, um nicht mehr nur Institutionen zu fördern, sondern unmittelbar Künstlerinnen und Künstler. Man manifestierte den Willen, sie ihr eignes Repertoire schaffen zu lassen, indem man in ihre künstlerische Entwicklung investierte und ihnen Zeit gab, eine eigne Sprache auszubilden, eigne Formen, u.a. dadurch, dass sie mit jungen Autorinnen und Autoren kooperierten, aber v.a. indem sie selbstbestimmt produzieren konnten. Das hieß in der Regel, dass sie sich entscheiden konnten, mit wem sie in welcher Konstellation z.T. über Jahrzehnte (wie z.B. Maatschappij Discordia) zusammen arbeiten wollten. Dadurch ist eine einmalige Produktionslandschaft entstanden von 22 freien Produktionshäusern, die gut miteinander vernetzt arbeiten und den Theaterschaffenden ein Pendeln zwischen großen und kleinen Strukturen und ein „Hindurchstromen“ ermöglicht (und die heute durch die massiven Kürzungen in ihrer Substanz bedroht ist). Das ist die Geschichte eines wahrhaft „freien Theaters“, doch leider nicht des deutschen. Hierzulande kam statt einer Blüte von 1000 Gruppen die Blüte des sog. „Regietheaters“, das die Institution eben nur erneuerte, statt zu wirklich umwälzenden „Neuerungen“ zu führen wie Brecht es gefordert hatte. 1968 war nicht der Beginn einer Tradition der Innovation, einer sich selbst generierenden neuen Generation von Macherinnen und Machern wie in den Niederlanden, sondern die letztendlich langweilige Geschichte einiger Sieger, die sich durchgesetzt haben und die vakant gewordenen Machtpositionen errungen und z.T. bis heute nicht geräumt haben. Und dennoch: 1968 war nicht zuletzt ein Aufstand im Theater, von Theaterleuten: jenem Dramaturgen der Schaubühne, der die fünf Eier besorgt hat, die bei der ersten großen Demo gegen den Vietnamkrieg aufs Amerika-Haus geworfen wurden, von Wolfgang Neuss, der in Peter Steins Inszenierung von Peter Weiss’ Viet Nam Diskurs in den Münchner Kammerspielen für den Vietcong sammelte, den Go-Ins in laufende Vorstellungen, um mit dem Publikum über die Notstandsgesetze zu diskutieren und über das, was plötzlich wieder Kapitalismus hieß. Der Brecht-Boykott wurde durchbrochen, es folgte eine wahre Brecht-Flut, die deutsche Räterepublik wurde reenacted (Peter Zadeks Rotmord) usw. Die „freien Gruppen“ (Kollektive), die sich damals von den Stadttheatern abwandten und aus den für sie bereitgestellten Nebenspielstätten und Studios abwanderten, um eigne Häuser zu gründen oder in der Tradition der Theatertruppen umherzuziehen, waren geprägt von „physical theatre“, Artaud, Grotowski und verschiedenen außereuropäischen Einflüssen. Ihr Einfluß auf die heutige Generation freier Theaterschaffenden ist gering, dennoch stehen auch wir in ihrer Tradition. Erst als die Phase der „deutschen Kulturrevolution“ zehn, fünfzehn Jahre später endete, begann die Zeit des sog. „freien Theaters“.


1980 und die Folgen:

Es war die Zeit, in der der Kapitalismus plötzlich wieder überall „freie Marktwirschaft“ genannt wurde – oder, wenn das K-Wort noch benutzt wurde, dann mit leuchtenden Augen: das waren die Boom-Jahre der 80er, das Jahrzehnt der Yuppies, aber auch der Punks und Ökos, der Latsch- und Friedensdemos, Hausbesetzungen (populär wurde dafür das niederländische ‘kraak’) und Krawalle. Zur Vorgeschichte der Jugendrevolte, die 1980/81 in mehreren europäischen Städten gleichzeitig ausbrach, gehören auch die Ausschreitungen vor dem Züricher Opernhaus, nachdem die Stadtverwaltung die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum abgelehnt hatte, zugleich aber dem Opernhaus eine Förderung von 60 Millionen Franken zusprach („Opernhauskrawalle“). Viele der neuen Produktionsstrukturen für Theater stammen aus dieser Zeit: Mit einem Mal wurde das Wörtchen „frei“ wieder häufig verwandt: „atomwaffenfreie Zone“, „Republik freies Wendland“ und v.a. das aus den Piratenradiostationen entstehende „freie Radio“. Es meinte Selbstbestimmung, Autonomie, Unabhängigkeit von Markt & Staat. In dieser Tradition steht die Bezeichnung des „freien Theaters“, doch nichts davon trifft heute mehr zu: weder die Unabhängigkeit vom Staat, denn auch die „freie Szene“ wird durch die öffentliche Hand finanziert, noch vom Markt: Gruppen der „freien Szene“ haben sogar einen viel direkteren Zugang zu den großen Marktplätzen, den internationalen Festivals, als Stadttheaterproduktionen. Sie sind mobiler, flexibler, innovativer, kurz: sie sind das, was man sich unter einer postfordistischen Arbeitskraft vorstellt. Die Freiheit, die wir meinen, wenn wir vom „freien Theater“ sprechen, ist die Freiheit der Arbeitskraft, sich verwerten zu lassen – oder auch nicht. Das Wörtchen „frei“, mit dem wir heute in der Zeit der sog. immateriellen Produktion zu kämpfen haben, steht für „frei“ wie „Freibier“, das inflationäre „free“ der „free pics“ oder „free downloads“: Es ist das, was der Amsterdamer Internetkritiker Geert Lovink die „dictatorship of the economy of the free“ nennt. Der dritte Sektor jenseits von Staat & Markt (und totaler Verarmung) bleibt zu entwickeln, noch ist er besetzt von den sozialen Netzwerken wie facebook, die von unsrer Kreativität leben, den sog. „user-generierten Inhalten“. Wir sind heute alle Arbeiterinnen und Arbeiter einer neuen Industrie: der creative industries. Und dennoch ist das kein Grund zur Klage, zum Kulturpessimismus: Es herrscht zwar ein „neuer Geist des Kapitalismus“ (Boltanski & Chiapello), der mit einem „kreativen Imperativ“ operiert und uns zur Selbstbestimmung, der sog. „Eigenverantwortung“ zwingt, doch auch diese Freiheit ist erkämpft worden – nicht durch Arbeitskämpfe, sondern durch „Nichtarbeitskämpfe“ (Kai van Eikels), durch Verweigerung, Rückzug oder Flucht nach vorn. Ich nenne dieses Konzept in Anlehnung an den italienischen Operaismus („Arbeiterismus“) der Einfachheit halber „Performerism“. Es meint den Aufstand der kreativen Arbeitskraft gegen seine Einsperrung in den Fabrikmauern, respektive den Mauern des Stadt- und Staatstheaters. Es ist ein Exodus. Diese Geschichte hat 1968 begonnen: Wir haben uns auf den Weg gemacht – und auf diesem Weg sind wir noch immer. Keiner weiß, wo er hinführen wird, aber eines weiß man mit Sicherheit: „Der Weg bleibt bestehen, auch wenn das Ziel explodiert!“ (Christoph Schlingensief). Wir sind maßlos, ungeheuerlich – man kann uns nicht evaluieren – doch das Gute ist, nicht nur wir, sondern die Arbeit als solche. Das, was wir auf die Bühne bringen, mag diskursig sein oder extrem körperlich, sprachlastig oder rein gestisch, bilderstark oder -arm, aber es ist immer: lebendige Arbeit, „das gestaltende Feuer, die Vergänglichkeit der Dinge, ihre Zeitlichkeit, als ihre Formung durch die lebendige Zeit“ (Marx) – und damit der Vorschein dessen, was aus der Gesellschaft wird, bzw., was sie schon ist, aber noch nicht wahrhaben will, längst geworden zu sein. Wir sind ein Bild aus der Zukunft: die Gegenwart. Für eine freie und d.h. freie Gesellschaft!

Für ein freies und d.h. freies freies Theater!

Alexander Karschnia, 2013-10-30

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Förderer der freien darstellenden Künste! Ich freue mich, heute hier beim Ersten Branchentreffen zu Euch sprechen zu können und bedanke mich bei den Organisatorinnen und Organisatoren für die Einladung. Anlass meiner Einladung war ein Text, den ich dieses Jahr für das Festival Impulse geschrieben habe: „Für ein freies und d.h. freies Theater!“ Für den heutigen Vortrag habe ich den Titel leicht variiert:

„Für ein freies und d.h. freies freies Theater!“ Mehr

Keine Frage der Haut

Simone Dede Ayivi, 2013-09-03

Keine Frage der Haut

Am 7. Januar 2012 hatte „Ich bin nicht Rappaport“, ein Theaterstück des US-amerikanischen Autors Herb Gardner, am Berliner Schlossparktheater Premiere. Das Schlossparktheater wird von Dieter Hallervorden geführt, der auch eine der beiden Hauptrollen spielt – den weißen Amerikaner Nat, ein älterer Mann, der seine Tage mit dem Afroamerikaner Midge (Joachim Bliese) verbringt. Die Problematik dieser Besetzung wurde allerdings schon vor der Premiere deutlich.
Das Plakat zeigte Hallervorden in alberner Pose, der auf einen dümmlich drein schauenden , schwarzgeschminkten Joachim Bliese herabblickt.
Eine Fehlleistung, auf die schon nach kurzer Zeit in Form von Facebook-Kommentaren und Protestbriefen an das Theater reagiert wurde.

Schwarze Menschen von angemalten Weißen spielen zu lassen, steht in der theatralen Konvention des Blackface. Mit der Kritik an der Verwendung dieses rassistisch konnotierten Theatermittels drängte eine längst überfällige Debatte über rassistische Praktiken auf deutschen Bühnen in die breite Öffentlichkeit.

Wie groß unser Rassismusproblem wirklich ist, wurde deutlicher, je länger die Debatte andauerte: Der Diskussionsverlauf gibt Aufschluss über die Rassismus verharmlosende und verleugnende Stimmung, die der Debatte zu Grunde liegt. Eine Stimmung, die nicht theaterspezifisch ist, sondern sich auch in anderen Bereichen zeigt. Der Theaterbetrieb ist also kein rassistischer Extremfall, aber eben entgegen der landläufigen Meinung auch keine diskriminierungsfreie Insel. Dies zeigt sich zu aller erst darin, dass die Thematisierung von Rassismus offensichtlich als störend empfunden wird und eine Diskussion über dieses Thema möglichst vermieden werden soll. So kommt das Gespräch sehr schnell auf die Frage der Haut.

Den Menschen, die eine Auseinandersetzung mit einem rassistischen Vorfall einfordern, wird entgegnet, dass sie sich eine dickere zulegen sollten. Ich persönlich beispielsweise bin mit meiner Haut jedoch sehr zufrieden: Sie ist dick genug, dass mir nicht sofort alles darunter geht und dünn genug, dass ich noch gelegentlich aus ihr herausfahren kann. Und eben Schwarz. Was wohl der Grund dafür ist, dass sie zum Thema wird. Ich meine ihre Dicke.

Wenn die Dünnhäutigkeit der Rassismus benennenden Person nicht eindeutig festgestellt werden kann, wird als nächstes gern ihre Qualifikation in Frage gestellt.
Als sich in Reaktion auf die Nutzung von Blackface am Schlossparktheater die Initiative Bühnenwatch gründete und öffentlich damit begann, über die rassistische Dimension dieses Mittels aufzuklären, hörte man nicht von allen, aber eindeutig zu vielen Seiten, dass es sich wohl um „erfolglose“ oder gar „minder begabte“ Schwarze Schauspieler_innen handeln müsse, die versuchen, sich über die „Rassismuskeule“ (ein Begriff, über dessen Absurdität es sich nicht auszulassen lohnt) einen Vorteil auf dem engen Arbeitsmarkt zu verschaffen.

Das Risiko, dem sich Schwarze Schauspieler_innen und Schauspieler_innen of Color aussetzen, wenn sie Rassistisches als rassistisch benennen, lässt sich mit folgenden Beispiel verdeutlichen.

Die Fernsehmoderatorin und Autorin Sarah Kuttner liest aus ihrem Roman „Wachstumsschmerz“. Im Text benutzt sie rassistisches Vokabular und wird von einem Zuschauer angezeigt. Der TV-Moderator und Schauspieler Mola Adebisi nimmt dazu öffentlich Stellung und erklärt, dass Kuttner bereits während der gemeinsamen Zeit bei Viva rassistische Witze gemacht hätte. Außerdem beschwert er sich über Rassismus im deutschen Fernsehen. Die mediale Reaktion darauf ist zum einen, dass Adebisi von Presse- und Leserkommentaren als „schlechter“ Moderator diskreditiert wird – also die gleiche Infragestellung seiner Qualifikation wie die Kollegen vom Theater erfährt – und versuche, für das „Scheitern“ seiner Karriere nicht sein eigenes Unvermögen, sondern Diskriminierung verantwortlich zu machen. Zum Anderen wird behauptet Kuttner wäre einem „Shitstorm“ ausgesetzt .

Wer Rassismus thematisiert, läuft Gefahr, als unvermögend gebrandmarkt zu werden und wird in die Schublade derer gesteckt, die es nötig haben, mit Hilfe der „Rassismuskeule“ die „Diskriminierungskarte“ auszuspielen, und muss zudem mitansehen, wie die Aggressorin zum Opfer eines „Vorwurfs“ stilisiert wird, der angeblich unangemessene Empörung mit sich bringt.

Über Rassismus wird im Allgemeinen nicht gerne gesprochen. Das Aufbringen des Themas, beispielsweise in Publikumsgesprächen, zieht viele genervte Reaktionen nach sich. Oft ist unruhiges Gemurmel zu vernehmen, die Unlust und Nervosität der Anwesenden wird spürbar. Die Aussage, etwas sei rassistisch, scheint den allgemeinen Frieden zu stören. Der „Rassismusvorwurf“ bringt ein unangenehmes Thema auf die Tagesordnung. Überschriften wie „Theatralischer Rassismusvorwurf: Angeschwärzt“ , „Theater-Fans werfen Dieter Hallervorden Rassismus vor“ oder „Rassismusvorwurf an Berliner Theater – Schwarze Schminke“ zeigen: nicht der rassistische Akt ist die Meldung wert, sondern der „Vorwurf“.

Dabei wird der Vorwurf, der lediglich die Reaktion auf eine Handlung ist, zum eigentlichen aggressiven Akt gemacht: Der Rassismusvorwerfer, nicht der Rassist zwingt uns dazu die Debatte erneut führen zu müssen. Die erste Reaktion auf diese Meldungen ist deshalb nicht „Oh nein! Schon wieder ein rassistischer Vorfall!“ sondern, „Mhm. Schon wieder so ein Rassismusvorwurf“ Fakt ist aber: Rassismus hätte nicht zum Gesprächsthema werden müssen, hätte es den rassistischen Aspekt in der Inszenierung nicht gegeben.
So wie die meisten Diskussionen um Rassismus aus der Mitte verlaufen, scheint es, als wäre nicht etwa die rassistische Herabwürdigung, sondern der Rassismusvorwurf die schwerstwiegende Beleidigung, die man machen kann.

Das hat damit zu tun, dass wir glauben, dass es Rassismus in der politischen Mitte oder gar links davon nicht geben kann. Erst recht nicht unter Intellektuellen und Künstlern. Rassismus und Antisemitismus werden rechts außen verortet. Damit wird ein gesamtgesellschaftliches Problem als Randerscheinung verharmlost, das nur in den Köpfen prügelnder Neonazis existieren könne. Diese Haltung hat zur Konsequenz, dass rassistische Praktiken von den eigentlichen Urheber_innen abgelenkt und zum Problem von People of Color konstruiert werden .

So lässt sich auch die hartnäckige Wiederholung der zweiten Frage erklären, mit der diejenigen, die auf rassistische Praktiken am und auf dem Theater aufmerksam machen, konfrontiert werden:

„Habt ihr denn keine wichtigeren Probleme? Wo doch „Ausländer“ auf der Straße angegriffen werden! Und schließlich leben wir in Zeiten rechten Terrors …“

Ein wichtiger Punkt. Es gilt, sich sämtlichen Ausprägungen von Rassismus, bei denen es um Leben und Tod geht, mit aller Kraft entgegen zu stellen. Mit allen erforderlichen Mitteln. Und eines davon ist, das Erhalten und Neuerschaffen von rassistischen Zuschreibungen und Stereotypisierungen zu thematisieren und das Markieren Schwarzer Menschen und People of Color als „fremd“ und „anders“ nicht länger zu dulden. Als Theaterschaffende_r ist es naheliegend, diese Auseinandersetzung auch am Theater zu führen.

Wenn also Regisseur X Theater mit rassistischen Mitteln macht, Autorin X in ihrem Stück rassistische Sprache benutzt oder ein Haus eine rassistische Besetzungspolitik fährt, dann sollte dies auch so benannt werden: Rassistisch. Fortschritte sind schwer zu erzielen durch Schönrederei. Doch diese Fortschritte im Kampf gegen Rassismus scheinen durchaus gewollt zu sein, denn es stehen immer wieder antirassistische Stücke oder Inszenierungen auf den Spielplänen. Aber gerade in diesen Arbeiten werden häufig rassistische Stereotype reproduziert, sei es, um Rassismus auszustellen, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten oder das Leid von Rassismus-Opfern darzustellen. In solchen Fällen wird häufig damit argumentiert, dass der Einsatz dieser Mittel der antirassistischen Intention des Abends dient und dadurch von Kritik ausgenommen sei. Der Zweck soll nach dieser Theorie die Theatermittel reinigen.

Doch wie kann etwas antirassistisch sein, das rassistische Praktiken reproduziert? Ich selbst bin nach zwei Stunden blackgefacter n-wort-schreiender Performance nicht mehr besonders aufnahmefähig für irgendeine gut gemeinte Botschaft. Auch hier findet Ausschluss statt. Schwarze im Publikum werden nicht mitgedacht und bekommen die Verletzungen aus dem Alltag noch einmal von der Bühne herab serviert. Tatsächlich ist das eine Provokation. Leider keine besonders mutige, denn provoziert werden diejenigen, deren Perspektive ohnehin unterrepräsentiert ist.

Im Verlauf der Auseinandersetzung wurde deutlich, wenn weiße Theatermacher_innen über Theater reden, gehen fast alle von Ihnen von einem weißen Publikum aus. Gleichzeitig wurde an vielen Häusern das Ausbleiben von migrantischen und postmigrantischen Zuschauern bedauert und Bemühungen unternommen, um auch die mit „Hintergrund“ in die Theater zu locken. Dabei könnte es einen Zusammenhang zwischen dem Ignorieren der Existenz einer postmigrantischen Zuschauerschaft und dem Desinteresse der Ignorierten am Theater geben.

Das Einheitsweiß auf deutschen Bühnen behauptet eine Homogenität, die es in unserer Gesellschaft nicht gibt. Zudem findet Diversität auf dem Theater nicht als Selbstverständlichkeit statt, sondern festigt durch Reproduktion konstruierte Unterschiede.
Das bedeutet, Schauspieler_innen of Color sind kaum präsent und wenn, dann in Inszenierungen, die kulturelle Unterschiede thematisieren. Inszenierungen also, die stark dazu anregen, nach dem Notausgang zu suchen.

Rezipient_innen von Theater, Film und Fernsehen müssen zu viele der entgegen anderer Behauptungen durchaus existenten Schwarzen deutschen Schauspieler_innen, die sich auf der Schauspielschule mühsam ihr Schwäbisch, Bayerisch oder Sächsisch abtrainiert haben, um reines Bühnendeutsch zu sprechen, gebrochenes Deutsch reden hören. Und geben wir den Kolleginnen of Color daran nicht die Schuld, denn immer mehr thematisieren die Problematik oder/und lehnen derartige Rollen mit entsprechendem Kommentar ab. Daraufhin haben sie allerdings die von mir bereits beschriebenen Konsequenzen zu tragen (Vorwurf der Dünnhäutigkeit, Infragestellung ihrer schauspielerischen Fähigkeiten). Außerdem ist es der Beruf der Schauspielerin oder des Schauspielers, zu spielen und manche versuchen ihren Lebensunterhalt in dem Bereich zu verdienen, in dem sie ausgebildet sind. Die Möglichkeit bietet sich in der Darstellung von Opfern und Exoten. Den Fremden und Anderen. eindimensionale Abziehbilder rassistischer Klischees. Zuschreibungen, die mich als Schwarze Zuschauerin je nach Fall langweilen bis beleidigen. Schwarze Rollen.

Die Sache mit den Schwarzen Rollen ist nicht von mir, sondern als Rechtfertigung für die Nutzung von Blackface herangezogen worden: Es gäbe so wenige Schwarze Rollen am Theater, weshalb es sich nicht lohne Schwarze Schauspieler_innen fest im Ensemble zu engagieren. Deswegen müssten, wenn mal ein Stück mit einer Schwarzen Figur auf dem Spielplan steht, weiße Schauspieler schwarz angemalt werden.

Die Theaterverabredung reicht so weit, dass wir in der Lage sind, aus einem Kassettenrecorder ein Auto zu machen oder aus einer Reihe Vorhänge einen verwunschenen Wald, wir glauben einem Darsteller der in den zweiten Rang schaut, dass da wohl gleich der Bote kommt, aber einen Schwarzen Schauspieler, den finden wir unglaubwürdig als dänischen Prinzen, als Räuberhauptmann oder dessen verkorksten Bruder. Das sind angeblich weiße Rollen, und Schwarze spielen eben die „Anderen“, die in die bereits erwähnten Kategorien passen. Asylbewerberinnen, rechtlose Prostituierte und natürlich Othello. Es gibt auch andere, vielschichtige Figuren, meist in zeitgenössischen Dramen aus dem angelsächsischen Sprachraum, die als Schwarze Charaktere geschrieben sind. Aber auch diese Rollen werden aus zuvor genannter Begründung häufig von weißen dargestellt.
Die Schauspielerin und künstlerische Leiterin des afrodeutschen Ensembles „Label Noir“, Lara-Sophie Milagro, kommt nach einer ausführlichen Auflistung der Besetzungslogik an deutschen Theatern zu folgendem Ergebnis: „Weiße können alles spielen, Schwarze nicht mal "sich selbst".“ Interessanterweise wurde die Forderung, Schwarze Figuren auch von Schwarzen Schauspielerinnen verkörpern zu lassen, vielfach als unangebrachter Ruf nach mehr Authentizität abgetan.
Mit Aussagen, wie: „Ja, dürfen dann auch nur noch Dänen den Hamlet spielen und nur noch Italiener den Romeo?!“ driftete die Diskussion ins Absurde.
Das Deutsche Theater betitelte dann auch gleich ihr im Sommer 2012 ausgerichtetes Symposium mit „Authentizitätsterror“ . Damit machten die (Rassismus-)Keulenschwinger in kurzer Zeit Karriere zu (Authentizitäts-)Terroristen.

Tatsächlich rief niemand, der sich gegen Blackface und für Diversität in Ensembles aussprach, nach mehr Authentizität. Es geht darum, Schwarze Julias, Gretchens und Hamlets auf der Bühne sehen, ohne dass deren Hautfarbe thematisiert wird, und zwar weder in der Inszenierung noch in deren Besprechungen. Solange das nicht der Fall ist, sind wir nicht in der Situation, colorblind besetzen zu können. Nicht, wenn colorblind bedeutet, dass alle von Weißen gespielt werden. Schwarz sein ist keine Kunst und schon gar kein Rollenfach, genauso wenig wie weiß sein. Hautfarbe bleibt eine Kunstruktion und kein Theaterzeichen.

Wenn wir an diesem Punkt der Diskussion angelangt sind, dass Ansprechen von Rassismus also als Ursache des Problems identifiziert wurde, die Sache mit der Dünnhäutigkeit zur Sprache kam und der „Rassismuskeulen“ schwingenden Person die Qualifikation abgesprochen wurde, haben wir uns im Grunde immer noch nicht richtig mit dem Kernthema befasst: Woher kommt er, der Rassismus an deutschen Bühnen, was hat er dort aktuell zu suchen und wie werden wir ihn so schnell wie möglich wieder los, um People of Color nicht weiter vom Theater auszuschließen?

Stattdessen sieht man die Kunstfreiheit in Gefahr: Wenn nichts mehr hilft, wird der Rassismusvorwurf mit einem Zensurvorwurf gekontert . An keiner Stelle der Debatte wurde staatliche Kontrolle von Theatern eingefordert. Es ist unverständlich, wie Begriffe wie Verbot, Zensur und Einschränkung der Kunstfreiheit überhaupt Einzug in diese Diskussion halten konnten. Sie dienen nur denjenigen, die Angst haben, ihr Privileg, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen, zu verlieren.
Auf einmal wird den Kritiker_innen, den Erfolg- und Talentlosen, den Überempfindlichen eine ungeheure Macht zugesprochen, vor der es die Kunst zu schützen gilt. Dabei sind diese weder in der Position, noch ist es ihr Anliegen irgendetwas zu verbieten, nur schweigen wollen und können sie dazu nicht mehr.

Denn sicher ist, dass das Ignorieren dieses Themas mehr Schaden anrichtet, als ein nur scheinbar harmonischer Theaterabend Wert ist. Wenn People of Color strukturell vom Theater ausgeschlossen werden und auf der Bühne rassistische Worte und Mittel benutzt werden, wissend oder unbewusst, ist es absolut notwendig, dies auch als das zu bezeichnen was es ist: Rassismus. Egal, ob es „rassistisch gemeint“ ist oder nicht und unabhängig davon, was die entsprechende Person im Sommer 68 getan hat. Dass sich niemand den Schuh anziehen will, rassistisch gehandelt oder gesprochen zu haben, spricht jedoch nicht nur für Ignoranz. Ein bisschen ist es auch ein gutes Zeichen, nämlich dafür, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Rassismus grundsätzlich als etwas Schlechtes, nicht zu Befürwortendes angesehen wird. Auch wenn es beispielsweise Besorgnis erregend ist, dass das N-Wort nicht generell als beleidigend gilt, wäre es noch mehr Besorgnis erregend, in einem Land zu leben, in dem „Rassist“, ein Kompliment ist. Tatsächlich trifft der „Rassismusvorwurf“ einen wunden Punkt. Und wenn man den Finger auf eine Wunde legt, sollte man nicht damit rechnen, darum gebeten zu werden, ihn weiter hinein zu bohren.

Es wäre generell falsch zu behaupten, dass sich gar nichts tut. Denn eine Sensibilisierung findet statt. Das Deutsche Theater stand ebenfalls wegen dem Einsatz von Blackface stark in der Kritik. Es ging um Michael Thalheimers Inszenierung von Dea Lohers „Unschuld“. Dort spielen zwei weiße Schauspieler die Schwarzen illegalisierten Migranten Fadoul (Peter Moltzen) und Elisio (Andreas Döhler). Sie betraten die Bühne mit einer dicken Schicht schwarzer Farbe und knallrot geschminkten Lippen. Nach einer von Bühnenwatch organisierten Störaktion, bei der mehr als 40 Zuschauer_innen beim Erscheinen der geblackfaceten Männer den Theatersaal verließen, und mehreren Gesprächen mit Bühnenwatch-Aktivist_innen entscheidet sich das DT auf Blackfacing zu verzichten und die Schauspieler stattdessen weiß zu schminken. Leider bekommt es dafür nicht das kleine Lob, das es verdient hätte sondern wird des Nachgebens und Einknickens bezichtigt .

Seitdem das Thema öffentlich diskutiert wird finden sich häufiger Interviews und Textbeiträge von TheaterwissenschaftlerInnen und Künstlerinnen und Künstlern of Color. Ein Zeichen dafür, dass die Perspektive Schwarzer Theaterschaffender an Relevanz gewinnt. Außerdem bekomme ich in meiner täglichen Arbeit mit, dass immer mehr, besonders jüngere weiße Kolleginnen die eigenen Privilegien und die damit verbundene Perspektive hinterfragen. Dadurch wurde ich in letzter Zeit häufiger in bereichernde und inspirierende Gespräche verwickelt.

Doch leider verlaufen die meisten Foyer-Gespräche zum Thema noch anders. Wenn ich um meine Expertise gebeten werde, dann meist mit Fragen, wie: „Wenn wir in dem Zusammenhang das N-Wort benutzen, dann ist das doch okay ?“ Oder: „Wenn wir hier mit Blackface arbeiten, dann ist das doch was ganz anderes, nicht wahr?“ Die Kolleg_innen sind mehr darum besorgt, selbst nicht mit der „Rassismuskeule“ in die „Rassistenecke“ gedrängt zu werden, als dass sich durch die Debatte ein Gespür für Verletzungen entwickelt hätte, die das unreflektierte Beharren auf rassistischen Konventionen anderen zufügt.
Denn in diesen Fällen geht es nur darum, eine Schwarze Person zu finden, die das weiße Vorhaben absegnet. Diese kann dann als Referenzperson angeführt werden, sollte es doch zu einem „Rassismusvorwurf“ kommen. Die Logik dahinter: Wenn nur eine Schwarze Person sich nicht verletzt fühlt, ist kein weiteres Hinterfragen von Nöten. Kritiker_innen können dann als dünnhäutig abgetan werden. Doch rassistischen Praktiken die Zustimmung zu versagen, ist mit Sicherheit keine Frage der Haut.
 

Lektionen des Lecks

Alex Karschnia, Berliner Gazette, 2011-02-02

Ist die „Welt nach Cablegate“ eine bessere Welt? Der Theatermacher und Berliner Gazette-Autor Alexander Karschnia dechiffriert die Lage im Dialog mit Pop-Autor Douglas Coupland, Psychoanalytiker Sigmund Freud und Kapitalismuskritiker John Holloway. Dabei kommt Karschnia zu dem Schluss: Es reicht nicht, die Kruste der Geheimhaltung anzubohren, damit sich ein Strom der Wahrheit ins Meer der Öffentlichkeit ergießen kann.

Das vielleicht unheimlichste Phänomen des vergangenen Jahres ist das Leck: Erst leckte der Meeresboden im Golf von Mexiko vor der nordamerikanischen Küste, dann leckten die Geheimkabel der staatsinternen Kommunikation der USA. Hat sich die Welt seitdem verändert?

Der elegische Ton einer besseren Welt

Wenn ich mich recht erinnere, nennt Douglas Coupland in seinem Roman Girlfriend in a Coma die Abgenibbelten ‚Leakers’: Ausgelaufene. Damit sind Menschen gemeint, die von einer rätselhaften Seuche dahinrafft werden. Es trifft fast alle auf dem Planeten. Dieser Dystopie liegt der manifestartige Appell zu Grunde, eine „neue Kultur“ zu schaffen, die „irgendwas bedeuten könne“. Die Suche nach ‚bleibenden Werten’ führt in eine Sphäre, die scheinbar gänzlich losgelöst ist vom Treiben des Marktes, der Politik, der Medien. Statt „geil anzugreifen“ (Rainald Goetz: SUBITO), wird hier der elegische Ton einer besseren Welt angestimmt.

Gründet sich nicht auch die Welt nach Cablegate auf einer derart konservativen Revolution, deren Pop-Star der vermeintliche Revolutionär Julian Assange ist? Es soll an dieser Stelle nicht nur um die Kritik am ‚Personen-Kult’ gehen. Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das folgende Paradox: Ein Mann, der selbst das Halbdunkel benötigt, um agieren zu können, fordert die totale Öffentlichkeit. Ein Dunkelmann der Aufklärung sozusagen, der offenbar Sigmund Freuds Optimismus teilt: ‚Wo Staatsgeheimnis war, soll Öffentlichkeit werden.’ Doch kann es wirklich nur darum gehen, unterdrückte Informationen ans Licht zu bringen? Sollte es nicht stutzig machen, wie eifrig die etablierten Medien darauf einsteigen?

Die Information wird zur Ware. Jede Woche bringt SPIEGEL(Online) einen Artikel zu Assange, WikiLeaks, etc. Der klassische ‚Enthüllungsjournalismus’ trumpft auf. Und das ‚Sturmgeschütz der Demokratie’ fühlt sich als ‚vierte Macht im Staat’ immer dann bestätigt, sobald irgendwo der Kopf eines Verantwortlichen rollt (wie anno 1962 bei der so genannten SPIEGEL-Affäre der des damaligen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß).

Macht im Staat vs. Anti-Staatsmacht

Eben das ist das Problem: Eine Macht im Staat zu sein und keine Gegenmacht, mitunter Anti-Staatsmacht. Zeitgenössische politische Theoretiker wie John Holloway aber fordern genau das – nicht länger das Spiel um die Macht im Staat mitzuspielen, sondern sie hinter sich zu lassen. Daher stellt sich die Frage, ob Assange’s Agentenkrimi wirklich subversiv ist oder nicht letztendlich stabilisierend wirkt. Nährt WikiLeaks nicht die alte Illusion der Verbesserbarkeit der Verhältnisse, während in Wirklichkeit die Verhältnisse nicht zu verbessern, sondern grundsätzlich zu verändern wären?

Diese Vorwürfe sind natürlich nicht neu, sondern so alt wie die Debatten um die repräsentative Demokratie. Wirklich interessant und neu wird es an dem Punkt, an dem die Zusammenarbeit mit Nachrichtendiensten und -magazinen endet und eine Selbstermächtigung stattfindet. Auch dafür gibt es im Falle WikiLeaks Anzeichen. Im weiten Feld der Assange-Unterstützer stehen inzwischen nicht mehr irgendwelche Ionenstrahlerangriffe auf paypal im Vordergrund, sondern das Bemühen, die publizierten Dokumente zu studieren und aufzubereiten.

Diese Arbeit nicht den Experten der Medien zu überlassen, ist von großer Bedeutung. Schließlich besteht das Problem der entströmten Datenmengen aus dem gehackten Leck darin, dass sie die alte Rolle des Gatekeepers, die Funktion der klassischen Medien als Filter, zurück ins Spiel bringen. Vor diesem Hintergrund wird erkennbar: Es reicht nicht, die Kruste der Geheimhaltung anzubohren, damit sich ein Strom der Wahrheit ins Meer der Öffentlichkeit ergießen kann.

Wie erwecke ich mich selbst?

Das Hohelied der Arbeitsteilung, das in diesem Zusammenhang erhoben wurde, bezweckt eine Rückverwandlung der Informationen in Waren. Das Charakteristische der Ware ist, dass sie ihr Produziertsein zu verbergen weiß und den Produzierenden fremd und äußerlich gegenüber steht. Und diese Produzierenden, beziehungsweise Koproduzierenden und Mitwisser des Systems – das sind wir. Die Wahrheit ist nicht irgendwo ‚da draußen’, sondern wir sind immer schon mittendrin.

Wir wissen genau, was Vati & Mutti hinter verschlossenen Türen tun! Daher reicht es nicht aus, ES in ICH zu überführen und Geheiminformation in gesellschaftliches Wissen. Der Witz am Ödipus-Mythos ist ja, dass sich der Wahrheitssucher am Ende selbst erkennt. Hinter der alltäglichen Katastrophe des Kapitalismus stecken keine Verschwörer, okkulten Mächte oder Aliens, sondern wir. Beziehungsweise unser Tun, das uns abgespalten, entfremdet, verdinglicht als Waren gegenüber tritt – so fremd und faszinierend wie Assanges gesammelte Geheiminformationen.

Der kleine Kreis von Erretteten in Couplands Roman „Girlfriend in a coma“ scheitert an der Aufgabe, der untergegangenen Kultur eine „neue Kultur“ folgen zu lassen. Man verfällt erneut der Dekadenz und den Drogen. An die Adresse jeder selbsternannten Avantgarde von Berufsrevolutionären oder professionellen Hackern richtet sich daher Holloway’s Appell aufzuhören – aufzuhören, den Kapitalismus zu machen. Das klingt simpel und naiv. Doch in Wirklichkeit stellt es uns immaterielle ArbeiterInnen, postfordistische PerformerInnen, flexible FreelancerInnen vor eine scheinbar unlösbare Aufgabe: Wie bestreike ich mich selbst? Und: Wie erwecke ich mich selbst?

berlinergazette.de

1776: Das Ende des 'freien Theaters' in Teutschland

Alex Karschnia, alextext.wordpress.com, 2011-01-13

1776: Zeit der Entzweiungen, Zeit der Gründungen: Die nordamerikanischen Kolonien machen sich unabhängig, Goethe läßt seinen Dichterfreund Jakob Michael Reinhold Lenz ausweisen. Die beiden haben sich 1771 in Straßburg kennen gelernt: Goethe hatte dort studiert, Lenz ist als bezahlter Begleiter von zwei Offizieren gekommen. Es ist die Zeit des Sturm & Drang und Straßburg das Zentrum dieser ersten deutschen Jugendbewegung. Lenz wird Vorsitzender einer literarischen Gesellschaft und macht Anmerkungen zum Theater: „Der Vorwurf einiger Anmerkungen, die ich auf dem Herzen habe, soll das Theater sein.“ Kurz hintereinander erscheinen die Dramen Götz von Berlichingen von Goethe und Der Hofmeister von Lenz, eine Tragikomödie, dessen happy end in der erfolgreichen Selbstkastration der Hauptperson besteht. Das Stück wird von der Kritik hoch gelobt – und für das Werk „unseres teutschen Shakespeare’s Dr. Göthe“ gehalten. 1775 schreibt Lenz die Satire PANDÄMONIUM GERMANICUM, in der er zusammen mit Goethe einen ‚steilen Berg’ besteigt, eine Art ‘Parnass der teutschen Poesie’. Dort treffen sie eine Menge Kollegen, die nach Strich und Faden karikiert werden. Wenig später lädt Goethe Lenz nach Weimar ein, wohin er selbst als ‚Erzieher’ des jungen Herzogs gezogen ist. Außer Goethe sind dort Wieland & Herder, mit Lenz treffen die Stürmer & Dränger Klinger & Kaufmann ein. Eine Weile gehen die wildesten Gerüchte über das „Genie-Treiben“ in Weimar um. Während Goethe zum Geheimrat ernannt und Mitglied der Regierung wird, verlässt Klinger die Stadt und zieht Lenz in den Wald und haust dort wie ein Hippie. Zweimal erwähnt Goethe in seinem Tagebuch „Lenzens Eseley“. Während die erste noch ein „Lachfieber“ in der höfischen Gesellschaft ausgelöst hat, führt die zweite zum Bruch zwischen Goethe & Lenz: Goethe lässt Lenz aus der Stadt ausweisen: Lenz wird „ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer, Rebell, Pasquillant“. Kurze Zeit später kommt es bei Lenz zu schizophrenen Schüben, die von seinem Gastgeber, dem Pfarrer Oberlin protokolliert worden sind. Diese Aufzeichnungen fallen über fünfzig Jahre später dem jungen Georg Büchner in die Hände, der vor polizeilicher Verfolgung nach Straßburg geflohen war. Auf dieser Grundlage schreibt er die Novelle LENZ: „Am zwanzigsten Jänner ging Lenz durchs Gebirg’…“ Kurz darauf starb Büchner im Exil in Zürich in derselben Straße, in der während des Ersten Weltkriegs der russische Exilant Uljanow, genannt Lenin wohnen wird in unmittelbarer Nachbarschaft zum Cabaret Voltaire, der Geburtsstätte des Dadaismus.

1971 brachte sich Bernward Vesper um, kurz nachdem er aus der Psychiatrie entlassen wurde. Wie Büchners LENZ blieb auch sein autobiographischer Roman Die Reise ein Fragment. Darin beschreibt er sowohl seine politische Reise als auch seinen LSD-Trip. Zusammen mit seiner Verlobten Gudrun Ensslin war Ende der 60er nach West-Berlin gezogen, wo sie aktiv an den politischen Ereignissen jener Zeit teilnahmen. Bei der Vorbereitung zur symbolischen Sprengung der Gedächtniskirche traf Gudrun Andreas Baader. Kurze Zeit später ging sie mit ihm auf eine Reise ohne Wiederkehr: In Frankfurt/M. verübten sie im April 1968 zwei Kaufhausbrandstiftungen, die sie zu den bekanntesten ‚politischen Gefangenen’ jener Jahre machten. Kurz nach ihrer Haftentlassung tauchen sie unter und gründen die RAF. Vespers Fragment wurde 1976 posthum veröffentlicht: Der Prozess gegen die sog. ‚Baader-Meinhof-Bande’ beschäftigte die Gemüter. Am 9. Mai 1976 war Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle aufgefunden worden. Ein Jahr später überschlagen sich die Ereignisse, die zum sog. ‚Deutschen Herbst’ und der ‚Todesnacht von Stammheim’ führen (Ermordung von Buback, Ponto, Schleyer-Entführung, Kidnapping der ‚Landshut’). Vespers Roman wurde in den folgenden Jahren zum Kultbuch und gilt heute als „Nachlass einer ganzen Generation“. Letztes Jahr hat Felix Ensslin, der Sohn von Gudrun & Bernward, den Briefwechsel der beiden herausgegeben: „Notstandsgesetze von Deiner Hand“ Briefe 1968/69. Ein paar Jahre zuvor war von Gerd Koenen das Buch erschienen: Vesper Ensslin Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus. Demnächst kommt Andres Veiels Film über Vesper & Ensslin ins Kino: Wer, wenn nicht wir.

„Unsere Geschichte mag zehnmal zuende sein, die Geschichte ist es nicht.“ (Gudrun Ensslin an Bernward Vesper. Frankfurt-Preungesheim, 19. April 1968)

Dass die Geschichte zu Ende sei ist ein Mantra, das wir nun seit bald dreißig Jahren zu hören kriegen. Für viele politische Aktivisten war Stammheim dann auch nicht nur das Ende ihrer Geschichte als politisch Aktive, sondern das Ende der Geschichte. Doch nicht nur RAF-Sympathisanten wie Peter Brückner, sondern auch rechtskonservative Intellektuelle wie Arnold Gehlen verkündeten damals die ‘Post-Histoire’. Es folgten die 80er – eine in jeder Hinsicht merkwürdige Übergangsphase. Aus der Sicht der radikalen Linken eine „Konterrevolution“ (Paolo Virno). Sie begann mit der Wahl von Margret Thatcher 1979, Ronald Reagan 1980 und Helmut Kohl 1982. In Deutschland hieß diese „Konterrevolution“ ‘geistig-moralische Wende’, in den USA ‘Reagonomics’, in UK ‘Thatcherism’. Es war nicht nur eine autoritäre Wende in der Politik, sondern auch der Beginn einer fundamentalen Umstrukturierung der Wirtschaft. Zugleich begannen die 80er mit der Gründung der Grünen, den Häuserkämpfen in West-Berlin, Hamburg, Amsterdam etc. Die ‘Alternativkultur’ breitete sich aus als Netzwerk besetzter Häuser, selbstverwalteter Jugendzentren, Kollektivbetriebe, etc. Ein nicht unwichtiger Strang dieses Netzwerks war das sog. ‘freie Theater’. Die Behauptung dieses Beitrags ist, dass dieses sog. ‘freie Theater’ nicht nur eine enge Verbindung zum Jahr 1976 hat, sondern ebenso zum Jahr 1776 – in negativer Hinsicht. Denn was in jenem Jahr nicht seinen Anfang nahm, war das Volkstheater, das sich J.M.R. Lenz vorgestellt hatte – heute würden wir es mit -x schreiben – was stattdessen begann war jener faule Kompromiss zwischen Bürgertum und Adel, den sowohl der Staat als auch das Staatstheater unsrer Zeit prägt. Das ‘Volxtheater’ sollte alle Stände umfassen, niemanden ausschließen und der Gesellschaft einen wahrhaften Spiegel vorhalten – auch jene „Kleinen“, denen Lenz später ein Stück widmete. Doch ein solcher ‘sozialer Realismus’ wurde mit der Ausweisung von Lenz ausgetrieben, stattdessen begann das Zeitalter der Repräsentation: Der Spiegel lügt. Es ist jener Zerrspiegel, der auch heute noch unsre Parlamente und die öffentliche Sphäre prägt: Ein Zauberspiegel, der nicht nur das zeigt, was da ist, sondern auch verbirgt, was nicht da sein soll. In unsern Tage sind das die „Gespenster der Migration“ (Mark Terkessides) – doch zu Gespenster werden sie erst in diesem Spiegel, der aus Sichtbaren Unsichtbare, aus Unsichtbaren Sichtbare macht: Die Macht, Lebendige in Tote und Tote in Lebendige zu verwandeln. Lenz’ Anmerkungen zum Theater sind Kratzer auf diesem Spiegel. Doch Goethe’s Verdikt gegen Lenz ist bis heute lebendig geblieben. Deswegen kann das sog. ‘freie Theater’ nicht auf Lenz verzichten. Brecht hat das ganz genau gewusst. Hier sehen wir das ‘ABC der teutschen Misere’ durchbuchstabiert: Wie der junge Bürger vom Adel so lange geknechtet, gequält, gepiesackt wird, bis er sich selbst kastriert. Dann ist er soweit, wem auch immer zu dienen: dem Staat, dem Kaiser oder dem Führer. Dieselbe Knechtseligkeit steckt noch im Wort ‘Dienstleistung’, jenem Fluch unsrer Tage. Bleibt: die Tat. „Handeln, handeln, handeln, das ist die Seele der Welt, dass diese unsere handelnde Kraft nicht ruhe, nicht ablasse zu wirken, zu regen, zu toben, bis sie uns Platz verschafft, Platz zu handeln – und wenn es das Chaos wäre, Freiheit wohnt nur hier!“ (Lenz über Götz von Berlichingen) Genau das warSchlingensiefs Schlachtruf: „Handeln handeln handeln, helfen helfen helfen!“ Erst wenn das Tun und das Tun-als-Ob nicht mehr zu unterscheiden sind, erst wenn niemand mehr sicher sagen kann, was ist und was nicht, dann haben wir eine Chance! Tun wir so, als ob wir nur so täten, dass wir was tun würden – aber tun wir was ! Wer, wenn nicht wir…

alextext.wordpress.com

Fleischexperiment

Alexander Karschnia, 2010-07-10

Etwas über Bertolt Brechts ‚Ästhetik des Hungers’ und die Performance FatzerBraz

 

Links, 2, 3: „Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Fressen, bitte sehr!“ (Einheitsfrontlied) Dass der Mensch vordringt zu der Kenntnis, dass zu erst das Essen kommt verkündet auch Johann Fatzer in einer großen Rede vor seinen Kameraden und verspricht ihnen, Fleisch zu besorgen. Auffällig ist dabei, dass im ganzen Stück dauernd das Wort ‚Fleisch’ statt ‚Essen’ benutzt wird. Dabei unterscheidet die deutsche Sprache ebenso wenig wie die portugiesische zwischen essbarem Fleisch (meat) und lebendigem Fleisch (flesh). Im Portugiesischen spielt auch die sexuelle Konnotation von ‚jemanden essen’ hinein – zu recht: wird doch von Brecht die Sexualität als „Furchtzentrum des Stückes“ beschrieben. Durchgängig spielt Brecht mit der kannibalistisch klingenden Ununterscheidbarkeit von Lebewesen und Lebensmitteln: So haben auch zwei von Fatzers Kameraden sprechende Namen: Koch & Kaumann. Am Ende des Stückes ist nicht klar, was mit Fatzer passiert, ob er von seinen Kameraden nur ermordet oder auch verspeist wird. In einer Notiz im Fatzer-Material im Archiv heißt es: „ein toter mann: / 170 pfund kaltes fleisch / 4 eimer wasser + 1 beutel / voll salz“. Die anthropophagische Lesart des Fatzer-Fragment speist sich aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges, in dem die Barbarei der modernen Zivilisation deutlich wird in der Doppeldeutigkeit des Plurals großer Kriegshandlungen und der Tätigkeit des Metzgers: Schlachten. (Schon Montaigne hat in seinem Essay über die Kannibalen die überlegene Moral der Menschenfresser gegenüber den Vernichtungsfeldzügen der Europäer hervorgehoben.) Die Zizizizivilis- wurde auch vom jungen Brecht spöttisch besungen, der sich jedoch unmittelbaren Erfahrungen mit den Schlächtereien erfolgreich entziehen konnte. An einen Freund an der Front schrieb er: „Ich denke zuviel. (…) Ich würde eine Offensive vereiteln.“ Er, der Denkende, diente lediglich als Sanitäter im Lazarett. Doch als Dichter konnte er wie kaum ein andrer dem Schock des Ersten Weltkrieges eine Sprache verleihen, dem sprachlosen Trauma der Menschen in den ‚Materialschlachten’. Fatzer spricht vom ‚Massemensch’, vor dem er sich am meisten fürchte: drehpunktlose Personen. Diese dramatis personae können keine Charaktere mehr sein. Der Dramatiker Brecht interessiert sich auch nicht mehr für sie – ihn interessieren nur noch Typen: Typen wie Fatzer. Oder Lenin. Wie Lenin bricht Fatzer den Krieg ab. Doch entspricht dem Typus Lenin viel eher dessen Antagonist Koch, bzw. Keuner, der Denkende, der spätere Held seiner Keunergeschichten. Koch, bzw. Keuner beschäftigt Brecht mehr als der Egoist Fatzer, als er die Arbeit am Fatzer abbricht. Wie Fatzer den Krieg. Es ist vielleicht Brechts bester Text, ein „Jahrhunderttext“ laut Heiner Müller: In dem Essay Fatzer +/- Keuner beschreibt er diese Verschiebung in Brechts Stück als ‚Materialschlacht Brecht vs. Brecht’: zwischen dem jungen undisziplinierten Aussätzigen und dem alten weisen Lehrer: Anarchist vs. Funktionär.

1978 fertigte Heiner Müller eine Bühnenfassung von Fatzer an. Er las Fatzer unmittelbar als Kommentar auf den sog. „Deutschen Herbst“, die terroristische Ereignisse des Jahres 1977 (Schleyer-Kidnapping, Landshut-Flugzeugentführung, Todesnacht von Stammheim). Die Strategie der Entführung von Repräsentanten der Macht zur Freipressung inhaftierter Genossen wurde zum ersten Mal von Carlos Marighella erfolgreich angewandt in São Paulo 1967. Nach dem Militärputsch hatte er mit der Kommunistischen Partei Brasiliens gebrochen, die nicht vorbereitet war auf die Illegalität und war in den bewaffneten Untergrund gegangen. Er wurde nicht nur theoretisch Che Guevara’s Nachfolger, sondern auch praktisch: Nachdem er dessen revolutionäre Focus-Theorie für die Landguerilla zur Theorie der Stadtguerilla weiter entwickelte hatte wurde er wie jener in einen Hinterhalt gelockt und am 4. November 1969 in der Alameda Casa Branca in São Paulo erschossen. Doch sollte in den folgenden Jahren sein Mini-Handbuch des Stadtguerillero noch folgenreich werden –auch in den westlichen Metropolen, im ‚Herzen der Bestie’, wurde es als Handlungsanleitung gelesen. Dabei gleichen seine Ratschläge auf unheimliche Weise den Anweisungen, die Brecht den Städtebewohnern in seinem Handbuch gibt: „Verwisch die Spuren.“ Und: „Iß das Fleisch, das da ist! Spare nicht!“ Hier ist, wie Benjamin geschrieben hat, nicht nur die Existenzweise des Emigranten beschrieben, sondern auch des illegalen Kämpfers, der im eigenen Land schon wie ein Flüchtling zu leben gezwungen ist. Fatzer hat jenen ‚Krieg ohne Schlacht’ zum Thema, der sich im Untergrund der Städte fortsetzt, nachdem man das Schlachtfeld verlassen hat. Brecht hat wie kein andrer vor oder nach ihm die Lebensweise der Großen Städte als sozialen Krieg begriffen. Wie die Mitglieder des militanten Widerstands der 1960er Jahre wollen Fatzer&Co. den Krieg in die Städte tragen: Die Kaufhausbrandstiftung der RAF-Gründer Andreas Baader & Gudrun Ensslin in Frankfurt/M. waren getragen von dem Gedanken, das „Vietnam-Gefühl“ in den „Wohlstandsinseln“ zu verbreiten, als welche man auch Städte wie São Paulo betrachtete: Zerschlagt die Wohlstandsinseln der Dritten Welt war der Titel jenes Buches, das Marighella’s Text in Deutschland verbreitete (mit einem Foto von São Paulo). „Der Kaufhausbrand war der verzweifelte Versuch“, so Müller, „die Zivilisation der Stellvertretung, der Delegierung des Leidens, zu provozieren, die Verlegung des Vietnamkriegs in den Supermarkt.“ Dabei ist das Beispiel Brasiliens nicht zu unterschätzen: So betrachtete Ulrike Meinhof die Militärdiktaturen in Lateinamerika (nach dem Putsch 1967 in Griechenland auch in Europa) als ‚präventive Konterrevolution’, gegen die man sich auch in Westeuropa bewaffnen müsse, da die Wiederkehr des Gespensts des Faschismus drohe. 1976 beging sie in Stammheim Suizid. Die Todesumstände wurden als ähnlich zweifelhaft empfunden wie die des regimekritischen Journalisten Vladimir Herzogs ein Jahr zuvor in einem brasilianischen Gefängnis: „Wer ermordete Herzog?“ war ein Schlachtruf des Widerstands in Brasilien, ein Künstler druckte den Satz hunderttausendfach auf Geldscheine. Für Müller war Meinhof eine zweite Rosa Luxemburg, die Mitglieder der RAF dagegen hielt er für die Widergänger des Jungen Genossen aus der Kalkgrube aus Brechts Lehrstück Die Maßnahme. In ihren konspirativen Kassibern im Hochsicherheits-Knast zitierten jene selbst Brechts berüchtigstes Stück: Es ist die Gewalt-Frage, die sie nicht loslässt, jene ‚Gretchen-Frage’ einer ganzen Generation: „Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“ heißt es im Fatzer-Material. Sie alle hatten das Beispiel von 1933 vor Augen: Damals war die KPD ebenso wenig auf die NS-Diktatur vorbereitet gewesen wie die Kommunistische Partei Brasiliens auf den Putsch. Statt einen Aufstand zu beginnen, ließ sich die Partei liquidieren, ihre Mitglieder starben zu Hunderttausenden in deutschen KZs und Folterkellern. Brecht selbst machte sich keine Illusionen über das kommende Unheil und verschwand am Tag des Reichstagsbrandes aus Deutschland. Noch im Exil sprach er sich gegen die KP-Strategie der Bildung einer breiten Volksfront aus für das Beispiel Fatzer: Diktatur einer kleinen revolutionäre Zelle, um ein Beispiel zu schaffen. Statt auf die Revolution zu warten losschlagen. Fatzer: „Zu schwach uns zu verteidigen, gehen wir zum Angriff über“. Brechts Worte sind bis heute Wahlspruch jeder radikalen Bewegung, die auf Taten drängt: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft hat schon verloren.“ Für Müller dagegen war das Schicksal der Fatzer-Keuner-Gruppe und der ‚Baader-Meinhof-Bande’ strukturell gleich: „Es gehört zur Tragik von militanten Gruppen, die nicht zum Zug kommen, dass die Gewalt sich nach innen kehrt.“ Die Gruppe ‚zerfleischt’ sich gegenseitig – eine weitere kannibalistische Vokabel für einen allzu häufig sich wiederholenden Vorgang innerhalb der Linken: Spaltung und Selbstzerstörung. Die Revolution frisst ihre Kinder, statt ihre Gegner. Fatzer-Chor: „ehe ihr Euer Bürgertum nicht vertilgt habt, werden Kriege nicht aufhören.“

Ende der 1960er Jahre ging nicht nur das eine Gespenst um in Europa, das Marx & Engels im Kommunistische Manifest beschwören, sondern viele: Die Toten der gescheiterten revolutionären Erhebungen am Ende des Ersten Weltkriegs, desertierende Soldaten, meuternde Matrosen und die aufständische Arbeiterinnen und Arbeiter in den hungernden Städten wurden mit den kämpfenden Massen in der Dritten Welt identifiziert: Che Guevara gekreuzigt ans Kreuz des Südens. Dort sah Müller den Geist der Partisanen auferstehen – der tote Hund am Rande der Autobahn kehrt als Wolf zurück. Durch ihr tragisches Scheitern sind die deutschen Terroristen, die sich mit den nationalen Befreiungsbewegungen in Lateinamerika, Afrika, Asien identifizierten, zu Gespenster unsrer Gegenwart geworden: in Filmen wie Bernd Eichingers ‚Baader-Meinhof-Komplex’ spuken sie als bedauernswerte Opfer einer Verblendung herum, verführt durch die radikale Ästhetik der Gewalt des antiimperialistischen Befreiungskampfes. Diese Ästhetik können Europäer gar nicht verstehen, so Glauber Rocha, der prominenteste Vertreter des brasilianischen cinema novo, denn es ist eine ‚Ästhetik des Hungers’. Das zeigt das Beispiel Brecht: sein Diktum, dass das Essen vor der Moral kommt, hat sich unter umgekehrten Vorzeichen im westdeutschen ‚Wirtschaftswunder’ erfüllt: „Wenn die USA, nach dem Wort von Che Guevara, das Herz der Bestie sind“ meinte daraufhin Müller, „ist die BRD der Magen.“ Im Magen der Bestie jedoch spricht man nicht vom Schlachten. Brechts ‚Ästhetik des Hungers’, die schon bei der Uraufführung der Dreigroschenoper possierlich gewirkt hatte, verliert ihren Charme für die Bourgeoisie in Stücken wie Fatzer oder Die Mutter (nach Maxim Gorki): „Über das Fleisch, das euch in der Küche fehlt / wird nicht in der Küche entschieden.“ So entwickelt sich die Mutter, da sie den Hunger ihres Sohnes nicht stillen kann, zur bewussten Klassenkämpferin: „Die Mutter ist die fleischgewordene Praxis“ schreibt Walter Benjamin. Wie Fatzer, der seinen Kameraden erklärt, dass sie als Soldaten denselben Feind haben wie ihre Gegner, die Soldaten der andren Seite, schafft es der Sohn, der Mutter klar zu machen, dass auch sie einen gemeinsamen Feind haben. Und dass zuerst das Essen kommt! In einem Land wie Brasilien, in dem das zentrale Reformprogramm der Regierung FOME ZERO (‚Null Hunger’) heißt, ist unmittelbar verständlich, was in Deutschland nur nach Moral klingt. Eben das ist der Grund, warum Brecht hier & heute nur noch ein Gespenst seiner selbst ist, ohne Stoff seines eignen Geistes, während er in der ‚Dritten Welt’ immer noch ein lebendig ist: ‚Frischfleisch’ für den Verzehr hungriger Gemüter. Für ein anthropophagisches Fest. „Im Zweifel ziehe ich den Kannibalismus der Lebenden dem Vampirismus der Toten vor.“ (Heiner Müller)

Während Brecht an Fatzer arbeitete, verfasste Oswald de Andrade das Anthropophagen Manifest: Der Weg zur brasilianischen Moderne könne nur durch den Rückgriff auf eine autochthone Kulturtechnik beschritten werden, nämlich durch die Einverleibung des ‚Heiligen Feindes’, „um ihn in ein Totem zu verwandeln“. (Dem hessischen Landsknecht Hans Staden wäre diese Ehre beinahe zu teil geworden, seiner Flucht verdanken wir den ersten Bericht aus der neuen Welt in Deutschland.) Wenig später wandte er sich von den eignen kulturrevolutionären Thesen ab und trat der Kommunistischen Partei bei. Zur selben Zeit bricht Brecht die Arbeit an Fatzer ab und nähert sich angesichts des erstarkenden NS-Faschismus der KPD an. Wie Fatzer und seine Kameraden wartet Brecht in seiner Berliner Wohnung auf die Revolution, um die drohende Konterrevolution abzuwenden. Das Scheitern der Revolution verhindert die Vollendung von Fatzer und führt zu Brechts „Emigration in die Klassizität“ (Heiner Müller). Mehr als zwanzig Jahre später, erst nach dem Aufstand der Arbeiter am 17. Juni 1953 in Ost-Berlin kehrt Brecht zu seinem alten Material zurück. Nun beschäftigt er sich erneut mit Fatzer und seinen Kameraden, besonders Büsching: Noch einmal trieb ihn die Frage nach der Verwertung der Produktivkraft der Asozialen um: ‚Helden ohne Charakter’ wie Macunaima, ein „sehr brasilianischer Brasilianer“, laut Mario de Andrade, der den Roman zur selben Zeit schrieb wie sein Namensvetter Oswald das Manifest (basierend auf den ethnographischen Studien über Mythen der brasilianischen Indios des deutschen Forschers Koch-Grünberg, die er aus dem Deutschen ins Portugiesische übersetzte). Macunaima ist aus den tropischen Wäldern und macht nur das, wozu er Lust hat: „Ach, diese Faulheit!“ Trotzdem ist er als einziger fähig, Essen zu organisieren. Wie Fatzer lügt er und verführt die Frauen seiner Brüder, dennoch folgen sie ihm in die Stadt und wieder zurück in den Dschungel, wo sie den Faulpelz schließlich sich selbst überlassen. In der Verfilmung von Joaquim de Andrade von 1969 nimmt ihn eine Guerillera auf, die tagsüber in der Stadt Bomben legt, während er den ganzen Tag auf der faulen Haut liegt. Er ist ein fauler, versoffener Gott wie Baal und somit ein „virtueller Revolutionär“ à la Meckie Messer oder Johann Fatzer. Demgegenüber steht der Stratege Koch, der Moralist und Terrorist, der später zum antiheroischen Helden von Brechts Keuner-Geschichten wurde: Als schwäbischen Mr. Nobody hat ihn Lion Feuchtwanger beschrieben, ein Odysseus in den Höhlen der Großstadt, ein Bloom (Tiqqun). Laut Benjamin drohte dem Dichter Brecht gerade von dieser Figur die größte Gefahr. Eine Gefahr, die nur die Gesellschaft der outlaws bannen könnte. Diese tauchen am 17. Juni 1953 kurz auf und werden von den sowjetischen Panzern zerstreut. Seitdem bleiben sie verbannt aus dem neuen Staat, obwohl Brecht seinerzeit den großen Nutzen hervorgehoben hatte, die gerade die Darstellung des Asozialen für den kollektivistischen Staat haben könnte. Brecht selbst galt nach seiner Remigration in die ‚sowjetisch besetzte Zone’ (SBZ) einer ganzen Generation von Schülern und Söhnen als Weiser, Vater, Lehrer. Dieser Ehrfurcht ist grundsätzlich mit Misstrauen zu begegnen – wissen wir doch aus Freuds Totem & Tabu um die Sohnes-Horde, die erst den Ur-Vater erschlagen hat, nur um ihn dann aus schlechtem Gewissen in ein Totem zu verwandeln! Dem Anthropophagen Manifest zufolge ist das gut & richtig so. In Deutschland gilt daher die Devise: ‚Esst mehr Brecht!’ 1998, zu Brechts 100. Geburtstag haben sich die Gründer von andcompany&Co. diesem Motto verschrieben und ihn in Form eines großen Kuchens gegessen: ‚Brecht bis ihr kotzt!’ Das Kulinarische, das Brecht seinen späten Stücken wieder zuführte, kann nur durch eine anthropophagische Kur überwunden werden: Brecht zu gebrauchen, ohne ihn zu verschlingen, ist Verrat!

Auch Oswald de Andrade hat sich gegen Ende seines Lebens auf seine alten Ideen besonnen. Aber erst Jahre nach seinem Tod findet seine Theorie Widerhall bei einer neuen Generation, den Künstlerinnen und Künstlern der Tropicalia-Bewegung (der bildende Künstler Helio Oiticica, die Sänger Gaetano Veloso, Gilberto Gil, Tom Ze etc.), die sich 1968 anschickten, die Beatles, Rolling Stones, Jimmy Hendrix und andere Einflüsse der westlichen Welt radikal einzuverleiben. In Brasilien hat andcompany&Co. die Chance gewittert, ihren anthropophagischen Umgang mit Fatzer dadurch zu legitimieren, dass sie Brecht brasilianisiert haben durch eine dort kanonisierte Kulturtechnik, die ihre Appetite nicht etwa gestillt, sondern noch vergrößert hat! Für Brecht ist der Esser das Bild des radikalen Revolutionärs: „Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es!“ heißt es Vom armen BB. Die Geschichte jedoch scheut die ‚tabula rasa’, die leer gefressene Tafel. Das Versprechen der Tropen ist es, dass die Tafel nie leer bleibt, sondern dass das Essen immer wieder nachwächst. Dass der Mangel überwunden wird in einer nicht kontrollierbaren Fülle. Ein Versprechen, das Heiner Müller, als Zeuge des ‚real-existierenden Sozialismus’, gefangen in der Verwaltung des Mangels, nur als Utopie erscheinen konnte. Die Überfülle ist das Versprechen der Neuen Welt, das jedoch seit der ‚Entdeckung’ vor einem halben Jahrtausend nie eingelöst, sondern immer nur ausgebeutet wurde. So konnte die Banane, für die Konquistadoren noch die ‚verbotene Frucht’ des an der brasilianischen Küste wieder gefundene Paradieses, zum Symbol der Massen werden, welche die Berliner Mauer zu Fall brachten mitsamt des Systems des Mangelsozialismus. Im Westen ist die Banane ein Symbol für die moderne Kunst, besonders für die populärste Kunst der Warengesellschaft: die pop-art. Jene Kunst, welche die Gründer der Tropicalia-Bewegung so kongenial mit den populären Volkskulturen des Landes verbunden haben. Damit haben sie etwas eingelöst, wovon Brecht in Europa nur träumen konnte: eine neuen Verbindung von Volkstümlichkeit und Avantgardismus. Brecht heute kann nur ein Tropikalist sein. Ein trauriger Tropikalist. Denn trotz des Reichtums herrscht immer noch der Mangel, der Hunger und in den Städten die Unordnung. Wann wird die Zeit kommen, in der man als Nachgeborene auch in den Megalopolen des globalen Südens nicht mehr singen muss: „In die Städte kamen wir in der Zeit der Unordnung, als dort Hunger herrschte.“ So vergeht auch unsre Zeit, die auf Erden uns gegeben ward.

P.S. „Lasst Euch nicht verführen“, sang Brecht, der Verführer: „Ihr sterbt mit allen Tieren. Und es gibt nichts nachher.“ Vielleicht hat Kunst ja mit der Tierwerdung zu tun, wie sie in Deleuze & Guattaris Kafka-Buch beschrieben ist, mutmaßte Müller im Zusammenhang mit Fatzer. Brecht konnte, bzw. wollte Kafka nicht verstehen: Er wollte nicht verstehen, dass die Käfer-Werdung Georg Samsas keine Tragödie ist, sondern eine Komödie. Es ist zum Lachen, nicht zu Weinen und nur lachend kann man die Verhältnisse ändern. Die Tier-Werdung ist die Suche nach einem Ausweg, einem Exit (Deleuze & Guattari) oder Exodus (Negri & Hardt). Eine Desertion. Ein Verrat an der eigenen Gattung, der noch grundlegender ist als der Verrat an der eigenen Klasse, den Brecht vollzogen hatte, als er den Angewohnheiten des Bedientwerdens und Befehlegebens überdrüssig wurde. Ein Verrat, der nicht angekündigt wird von einem Hahn, sondern von einem Papagei, der nichts mehr nachspricht, sondern etwas vorspricht: Er verrät uns einen neuen Namen, der nicht mehr der Namen ‚Brasilien’ sein wird, sondern der Name jener ‚fremden Heimat’, in der man noch nie war, die aber jeder kennt: Pindorama. Das ist, nach Ernst Bloch, die Utopie. Es ist die Utopie jener Deserteure, die sich nicht wieder auf die Sklavengaleere treiben ließen, sondern lieber auf der karibischen Insel zurückblieben, selbst auf die Gefahr hin, von den Einwohnern des Paradieses aufgefressen zu werden. Denn diejenigen, die dort an die Küste gespült wurden, „waren keine Kreuzfahrer“, so de Andrade: „Es Flüchtlinge von einer Zivilisation, die wir im Begriff sind aufzufressen, denn wir sind rachsüchtig wie Jabuti.“ Diesen „Flüchtlinge<n> aus den städtischen Sklerosen“, Städtebewohner wie Brechts Herr Keuner, rief er zu: „Den Kommunismus hatten wir schon. Die surrealistische Sprache hatten wir schon. Das goldene Zeitalter.“ Die Geschichte hat gezeigt: Koch, bzw. Keuner hat verloren und mit ihm das Modell der europäischen Revolution. Zeit also für die karibische Revolution, die de Andrade 1928 verkündet hat: „von der Französischen Revolution zur Romantik, zur bolschewistischen Revolution, zur surrealistischen Revolution, zum technisierten Barbaren von Keyserling.“ Lauschen wir den Sirenengesänge der Anthropophaginnen Pindoramas wie Macunaima nach seiner Rückkehr in den Dschungel, bevor ihn die Wasserhexe frisst: Bindet Odysseus los, ihr Ruderer! Kümmert Euch nicht weiter um ihn, der als Keuner (Niemand) den kannibalistischen Riesen bezwungen hat, sondern öffnet Eure Ohren und lauscht den Gesängen – folgt ihnen und lasst Euch fressen – vielleicht werdet ja auch ihr in ein Totem verwandelt: Im Zeitalter des globalen Kapitalismus ist Brasilianisierung vielleicht eine Chance, Eure letzte Chance – TROPICALYPSE NOW!

Alexander Karschnia (seit dem Brasilien-Aufenthalt bloggt er unregelmäßig: alextext.wordpress.com)

 

Die Blackbox öffnen: Geschichte(n), auf der Bühne remixed

Frauke Pahlke, teritorija.lv, 2010-08-04

Ein Portrait des Performancekollektivs andcompany&Co. aus Berlin

1917. 1924. 1926. 1989/90. 1991. Große Erwartungen, Milleniumswende, nichts passiert. Drei Jahre später in Frankfurt am Main im wiedervereinigten Deutschland, das seine sogenannte realsozialistische Hälfte, die DDR, längst geschluckt hat und weiterhin BRD heißt, als wäre nichts geschehen: Es rappelt in der Kiste, der Theater-Blackbox.

Mehr

teritorija.lv

Wir lernen hier und jetzt

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2010-04-20

Von Brecht gibt es ein schönes Wort: Lehrwert. Das wäre wieder aufzugreifen in den aktuellen Debatten über die Aneignung und Enteignung des Wissens. Über die politische Ökonomie der Wissensgesellschaft. Über die immaterielle und intellektuelle Produktion. Interessant wird’s in der Übersetzung. So hat Brecht seine Lehrstücke als “learning plays” übersetzt – was viel plausibler ist, schließlich geht es ja genau darum, dass es die Spielenden sind, die dabei etwas lernen sollen, nicht die Zuschauenden (die werden nur hineingelassen, wenn ihre Anwesenheit den Spielenden nutzt).

Also warum nicht gleich so – warum keine “Lernstücke”? Wahrscheinlich hing Brecht zu sehr an der “Lehre”. Nun ist dieses Wort so tief in Ungnade gefallen, dass man sich schon fast danach bücken, bzw. ducken muss, wenn man es wieder in den Diskurs schmuggeln will. Weil die “Lehre” in Form der “reinen Lehre” für die Abstrafung der Abweichler steht, für die Kalkgrube, das Auslöschen des Antlitz, die Vernichtung des Anderen. Genau das aber soll gelernt werden in Brechts wohl berüchtigstem Lehrstück: “Die Maßnahme”.

Sterben lehren – das geht nicht

Doch was genau soll nun gelernt werden? Junge Genossen killen oder sterben? Das ist nicht so ganz klar – und vielleicht geht es genau darum, um diese Unentscheidbarkeit, um die Schwelle zwischen der Tat und der Untat. Sterben zu lernen war schließlich die nobelste Aufgabe für Philosophie und Kunst seit der Antike. Und genau hier müsste man ansetzen, das wäre der Punkt: sterben lehren – doch das geht nicht: Man stirbt alleine.

Aber eben im Sterben verschwindet jenes ‘man’, jene Anonymität der Städtebewohner ebenso wie das Phantasma des unbeirrbaren Individuums und macht Platz für etwas anderes: jene “kleinste Größe” von der Brecht im Todeskapitel seines FATZER-Fragments spricht, seinem großen gescheiterten Lehrstück.

Am Ende des FATZER-Materials von Brecht gibt es auch den Entwurf für große und kleine Pädagogien, in dem die Lernenden Gesten einstudieren, Haltungen ausprobieren etc. Diese Pädagogien beschäftigen mich, seitdem ich zu Brechts 100. Geburtstag (1998) Teil eines szenischen FATZER-Projekts war, das unter der Regie von Hans-Thies Lehmann im I.G.-Farben-Haus in Frankfurt am Main stattgefunden hat.

Das I.G.-Farben-Haus hat eine unheimliche Geschichte – wie Kafkas Schloß steht es neben dem Grüneburgpark, war sozusagen Frankfurts erstes Hochhaus noch bevor die Skyline auf den Trümmern der zerbombten Stadt errichtet wurde. Dieser Ort war die Mordzentrale eines der schlimmsten Kriegsverbrecher-Konzerne (I.G.-Farben hat ein eigenes Außenlager in Auschwitz-Birkenau betrieben), wurde später zum Headquarter der US-Army, auf das die RAF einen Bombenanschlag verübte (seitdem war es durch den NATO-Zaun von der Stadt abgeschirmt) und wurde dann nicht Zentrale der EZB, sondern Uni-Campus.

Das I.G.-Farben-Haus als Lernumfeld

Ich bin schon auf dem Weg zur Schule jeden Morgen am I.G.-Farben-Haus vorbeigeradelt. Jahre später erlebte ich wie die Geisteswissenschaften der Goethe-Universität von Bockenheim in dieses Haus einzogen, das nun gerne als ‘Poelzig-Bau’ oder ‘Campus Westend’ bezeichnet wird.

Was also habe ich gelernt in jenen drei Nächten 1998 – zwischen 20 Uhr und Sonnenaufgang – in denen wir rund um das Casino (wo die RAF-Bombe explodierte) FATZER performt haben? Was habe ich über die Uni gelernt, als sie sich aus dem Bockenheimer Campus zurückzog (Sitz des Instituts für Sozialforschung, Ort der Frankfurter Schule und Schauplatz der Studentenbewegungen 1968ff.) und sich in einem idyllischen Ivy League School Environment einnistete (in dem jetzt Studiengänge wie “Law & Finances” gelehrt werden)? Was habe ich gelernt auf dem Weg zur Schule, dem Lessing-Gymnasium, jenem letzten altsprachlichen Gymnasium – als letzter Jahrgang, der noch obligatorisch Alt-Griechisch lernen musste (und ab der 5. Klasse Latein)?

Nun: “Non scholae, sed vitae discimus!” (“Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir!”) Schreibt euch das hinter die Ohren! Setzen! Heute jedoch lernen wir ja bekanntlich ein Leben lang, als ob ein Haufen aufgeklärter Seneca-Schüler den Kapitalismus reformiert hätte – um das ganze Leben zur Schule zu machen! Seit diesem Zeitpunkt, seitdem sich die Fabrik in die Gesellschaft aufgelöst hat (spätestens 1977ff.) lernen wir lebenslänglich fürs Überleben im postmodernen Kapitalismus.

Leben und sterben, lernen und lehren

Davon hatte ich auf dem Weg zur Schule noch keine Ahnung – doch lud schon damals der morgendliche Park zum Schwänzen ein. Ich wusste: Später wird man es stets bereuen, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, Schule zu schwänzen – wie in einem Zeitkristall schießen da die intensiven Momente des Lebens zusammen und ergeben ein Muster, den Kaffeesatz des eigenen gelebten Lebens, jenen berühmten Lebensfilm, der sich im Moment des Todes abspult.

Leben und Sterben sind so ineinander verschlungen wie Lernen und Lehren: “Je voudrais apprendre à vivre enfin” heißt es im ‘Auftakt’ von Derridas Marx’ Gespenster: “Ich möchte endlich lernen, endlich lehren zu leben.” Adressiert von Schulmeistern klingt das wie eine Drohung, eine Dressur. Dennoch: Leben lernen zu wollen, von sich selbst, ist eine logische Unmöglichkeit, eine Aporie – von ihr ist auszugehen, loszugehen, von dieser Grenze zwischen Leben und Tod, Lebenden und Toten, unverzüglich.

Das Leben ist nicht anderswo

Denn das ist das Perfide an den den Seneca-Satz zitierenden Humanisten. Was suggeriert wird ist: Das hier ist nicht Dein Leben. Dein Leben fängt erst an, wenn Du hier raus bist. Aber sobald Du raus bist, fängt das Leben auch noch nicht an. Sondern erst wenn Du da raus bist, wo Du dann rein gekommen bist – nach der Schule. Das Leben ist nicht anderswo, wie ein gewisses Pariser Grafitti einst versprach, sondern das Leben ist das, was wir lernen, indem wir leben und umgekehrt.

Will sagen: Die semantische Nähe von “Leben” und “Lernen” sollte ausgebaut werden in Zeiten der biopolitischen Produktion – jene “kollektiven Lernprozesse”, von denen auch Hans-Jürgen Krahl in Frankfurt sprach, als die Studenten auf die Barrikaden gingen. Als ein solcher Prozess ist auch die Besetzung eben jenes Casinos zu sehen, das ich oben beschrieben habe. Wütende Studierende haben es diesen Winter besetzt. Gut so! Verwandelt das Casino – in eine Schule, eine eigene Schule: “für eine freie Universität”! Endlich zu lernen, zu lehren, endlich zu zu sein, d.h. zu leben!

berlinergazette.de

Im Pool mit Adorno

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2009-09-09

„Am Anfang schwebte der Geist ueber den Wassern“ als pralle Regenwolke – so viel zum kosmischen Kreislauf. Wir Landlebewesen sind Effekt einer Klimakatastrophe, als „Mischwesen“ sind wir an Land, auf die Buehne gekrochen und als solche werden wir sie nach der „Abschaffung der Arten“ (Dath) wieder verlassen: Regression zum Lurch (according to Adorno & Horkheimer) oder Degeneration der Klassen in zwei verschiedene Arten (H. G. Wells) – es zieht uns zurueck in den Tuempel: die Verwandlung vom Prinzen in die Kroete.

Aber man kann die Metapher eines kollektiven „Ins Wasser gehens“ auch in hellerem Licht sehen: In der Tradition des Afro-Futurismus gibt es eine Sci-Fi-Fantasy 10.000 Meilen unter dem Meer: „Black Atlantis“. In U-Staedten wohnt eine Zivilisation von Wassermenschen, Nachfahren des versunkenen Kontinents und Kinder jener Sklavinnen, die hochschwanger ins Meer gestossen wurden, wenn die Sklavenschiffe in Seenot gerieten auf dem Weg in die „Neue Welt“ und die „Ladung geloescht wurde“.

In dieser ozeanischen Welt herrscht Inter-Species-Communication ueber Sounds, eine Welt voller Klaenge & Gesaenge. Vielleicht ist es Techno-Musik, die uns ins Wasser lockt wie Sirenen, der „Untergang des Abendlandes“ (Spengler) ist woertlich zu verstehen als Absaufen und die UFOs kommen nicht from Outer space, sondern aus dem Meer als fliegende U-Boote, Boten einer neuen Kultur. Wenn der letzte Eisberg geschmolzen ist, werden wir dort zu Grunde gehen, vorausgesetzt we know how to dance!

In „europe an alien“, einem unsrer ersten Stuecke haben wir schwarze Regencapes getragen, die man in Amsterdam, wo wir damals gelebt haben, ueberall kaufen kann. Darin sieht man aus wie der Boogey-Man: Das ist die Figur, vor der sich alle fuerchten – ins Meer geschleift zu werden von einem rachsuechtigen Geist. Aber keine Reue ueber keine Gier bringt hier Rettung, sondern nur ein Kopfsprung: „Jump, you fuckers!“ (Demo-Slogan Wall-Street, Oktober 08).

In unserm aktuellen Performance-Projekt geht es um einen Zirkus, der unter Wasser gesetzt wird von einem Holzkopf, der nix tut. Vorlage ist „Zirkus Sardam“ von Daniil Charms. Uns geht es um ein „Lob der Faulheit“ in der Tradition Adornos, der sich das Glueck vorstellte „auf dem Wasser liegend und friedlich in den Himmel schauend“. Im Pool mit Adorno. Diese Idylle wird konterkariert vom Bild der Turbulenzen „auf hoher See“, das inflationaer fuer die Krise benutzt wird, fuer das Ende der Gemuetlichkeit im nationalen Wohlfahrtsstaat.

Die Globalisierung als weltweite Verfluessigung, wobei man sich Staatslenker gerne als Steuermaenner vorstellt wie Stalin am CCCP-Steuerrad: „Nicht das Proletariat steht am Steuerrad/ sondern ein Walross regiert jetzt den Staat“ heisst es in unserm aktuellen Stueck „Mausoleum Buffo“. Dort sieht Lenin, wenn er nachts durch eine „Glass Onion“ blickt, ein Piratenschiff im Himmel: „Dead Kronstadt-sailors are trying to fix a hole in the ocean“. Diese Lennon-Zeile kommt in den Sinn, wenn man von den Massnahmen der Regierung liest, das Billionen Dollar-Loch zu stopfen.

Und Ringo Starr, der ein Loch aus der Hose zieht: „I have a hole in the pocket!“ Mit diesen Loechern, die verdammt wie LPs aussehen, muessen wir jonglieren lernen in den naechsten Jahren! In unsrer globalen Waterworld sind das die Lecks, durch die das Wasser eindringt als das „Aussen“, das es angeblich laengst nicht mehr gegeben hat. Die Fluten kommen von Innen – es sind die verdraengten Wuensche! Zeit, mit der Titanic-Metapher aufzuraeumen, sich von Eisbergen und -baeren zu verabschieden und „ins Offene“ hinauszuwagen: „Ein Schiff, das sich Kommune nennt!“

berlinergazette.de

Konterrevolutionäre Dekadenz

Alexander Karschnia, Berliner Gazette, 2010-06-03

Wie dekadent bist Du? (Author’s cut, PDF 52 KB)

Seit Dekadenz Kampfbegriff politischer Unmenschen geworden ist, kann man sich dazu nur affirmativ verhalten. Und ich denke nicht nur an die antisoziale Propaganda von Westerwelle.

Blicken wir auch auf die Reaktion des seit Jahren amoklaufenden Jürgen Elsässer auf die Massenproteste im Iran: “Hier wollen Discomiezen, Teheraner Drogenjunkies und die Strichjungen des Finanzkapitals eine Party feiern. Gut, dass Ahmadinedschads Leute ein bisschen aufpassen und den einen oder anderen in einen Darkroom befördert haben.”

Finster. Da fragt man sich, ob es in Deutschland so wenig Solidarität mit den mutigen Iranerinnen und Iranern gibt, weil sie etwas gewagt haben, was hierzulande nie versucht worden ist: ein mörderisches Regime von megalomanen Antisemiten zu stürzen.

Banalität des Neides

Hinter dem Hass auf Dekadenz stehen alte Ressentiments: gegen Frauen, Homosexuelle, HedonistInnen. Und, über den Umweg des Lohnarbeit-Fetisch als Gegensatz zum “raffenden US-Ostküstenkapital”, das verbissenste und langlebigste: der Antisemitismus. Und dahinter steckt – wie so oft – banaler Sexualneid, gepaart mit Paranoia: Finstere Mächte wollen mit Hilfe von Pornographie, der Propagierung von Promiskuität, Homo-, Bi- und Transsexualität den virilen Volkskörper zersetzen.

Der biopolitische Nationalismus träumt von der “Großen Gesundheit” wie einst Friedrich Nietzsche, der eingeschworene Feind der Dekadenz: “Den Erschöpften lockt das Schädliche: den Vegetarier das Gemüse.” Also sprach Zarathustra: Fleisch sei Euer Gemüse!

Fröhliche Wertlosigkeit

Zugleich bekannte er, selbst ein decadent zu sein: “Ich liebe die Untergehenden, denn es sind Übergehende.” Dem Verfall verfallen – die einen nennen es dekadent, die anderen subversiv: Die Bekämpfung des Ressentiments, des schlechten Gewissens, der Lustfeindlichkeit und des Antisemitismus wären nicht die schlechtesten Errungenschaften eines sogenannten “Linksnietzscheanismus”, der die frohe Botschaft verkündet: Die Zeit der Herrschaft des Wertgesetzes ist bald vorbei! Denn es ist die Maßlosigkeit unsrer Forderungen (“Her mit dem schönen Leben!”), die das Kapital um den ganzen Globus gejagt hat, so dass es heute mit dem Rücken zur Wand, bzw. zum All steht: ALLES FÜR ALLE!

Spargeljustiz

Die ‘Umkehrung der Werte’, die uns von der Moral befreit, begründet eine neue Ethik, die nicht den Verzicht predigt, sondern den Genuss praktiziert, ohne das Gewissen zu negieren. Nehmen wir uns ein Beispiel an Bertolt Brecht, dem eines Tages in seinem Lieblingslokal schlechter Spargel serviert wurde. Als er nach dem Beschwerdebuch fragte, wurde ihm sehr schnell neuer, sehr guter Spargel gebracht. Als er danach immer noch nach dem Beschwerdebuch verlangte, fragte ihn der verdutzte Kellner: “War der Spargel immer noch nicht gut?” “Doch, aber ich beschwere mich im Namen desjenigen, dem nun der schlechte Spargel vorgesetzt wird.”

Wir sind (nicht nur) gekommen, uns zu beschweren… Wir, dekadente Dissidenten, machen weiter: “We will never stop living this way!” So ruft Euch der manic street preacher in Austin, Texas in dem überirdisch-schönen Film Slacker zu: “Keep on keeping on!” Yo, bro!

berlinergazette.de

Temponauten mit Geschichte

Anja Quickert, Theater heute, 2010-06-01

Theaterwissenschaftler Alexander Karschnia, Sängerin Nicola Nord und Musiker Sascha Sulimma sind das Performancekollektiv andcompany&Co.

„Man wird das Gefühl nicht los, man müsse noch mal zurück ins Jahr 2000 – haben wir nicht irgendetwas Wichtiges vergessen?“, fragt Alexander Karschnia im Webmagazin Berliner Gazette. – 2006 startete „Little Red“, titelgebende Protagonistin der Performance von andcompany&Co., ihre erste Bühnen-Zeitreise aus der Zukunft des 3. Jahrtausends direkt in die Nachwendezeit. Dabei ist history vor allem „herstory“: Die Geschichte der westdeutschen Pionierin Nicola Nord, die von ihren Eltern jeden Sommer ins Kinderferienlager hinter den antiimperialistischen Schutzwall geschickt wurde. Auf der Bühne rennt die Figur Little Red mit überdimensioniertem roten Kosmonautenhelm vergeblich gegen die Zeit an, im Rücken die Frage, was Kommunisten und Kommunistinnen nach dem Ende der Geschichte machen. Der Rest ist Zitat im großen Collagenbilderbogen, der sich in der Sonderzeitzone „Temponauten“-Theater entfaltet, während das Publikum im freien Fall durch Geschichtsfragmente des 20. Jahrhunderts rauscht.

Gespensterprotokolle auf Zeitleisten

In der Gespensterstunde tauchen die alten Protagonisten des Märchenbuchs „Politische Utopien“ auf: Lenin, Lennon. Pop-up. Harter Cut. Im Zitatenalbum steht Heiner Müller neben eigenen Texten, Gerichtsprotokolle der Mc-Carthy-Ära neben „Gespensterprotokollen auf Zeitleisten“ aus dem globalen Chat-Room. Dabei rückt Sascha Sulimmas Musikalisierung den großen Ideen-Remix ganz in die Nähe des szenischen Pop-Konzerts.

Mit „Run in Place“, dem auf der Stelle laufenden Körper, und der ebenso alt-futuristisch wie kindlich anmutendem Kosmonautenhelm-Ästhetik, waren bereits die Themenspuren für „Time Republic“ angelegt: „Space Race“ und Kuba-Krise als Schauplatz des Kalten Kriegs. Während auf der Bühne russisch-futuristische Mond-Fantasien der 1920er Jahre den Sputnik-Schock der USA auslösen, stirbt John Lennon zeitlos. Die physische Verausgabung im sowjetischen Sportprogramm ist kollektiv: „Run in place is an example für the community.“ Am Ende zieht der einsame Kosmonaut im All seine Kreise, während sich das ganze sozialistische Konstrukt „Sowjet Union“ unter ihm schon real aufgelöst hat.

„Das utopische Moment liegt für uns eher in der Arbeitsweise“, antwortet das Kollektiv auf die Frage nach dem politischen Anliegen hinter so viel Utopieverlust. Und bezieht sich auf den &Co.-Teil des Namens, der programmatisch auch im gruppeneigenen „manifesto“ verankert ist. In jeder Inszenierung „verschwört“ sich das Kernteam mit anderen Künstlern zum Co.-Produzieren und -Performen: Musiker, Bildende Künstler und Autoren. „Oje, was machen die da, gehen auf diese Riesenbühne und nehmen all diese Leute mit“, schmunzelt Karschnia, wenn er an den allerersten Auftritt, die TAT-Bühne am Tag ihrer Schließung 2004, zurückdenkt.

Ein Zuhause im HAU

Kathrin Tiedemann vom FFT Düsseldorf, die sie 2006 dann mit „Little Red“ ins „Freischwimmer-Festival“ brachte, haben sie damit beeindruckt. Von dort ging es unmittelbar zum kunstenfestival nach Brüssel, direkt im Anschluss zum steirischen herbst. Auch Erfolg kann über einen hereinbrechen. „Danach war erst einmal alles unklar“, sagt Nicola Nord, die stadtübergreifend arbeitende Gruppe suchte ein gemeinsames Zuhause. Das bot ihnen dann Matthias Lilienthal am HAU in Berlin, wo man auch geografisch mit der Achse Ost-West ganz richtig lag. „Was mich an der Arbeit interessiert, ist die Rekonstruktion und gleichzeitige Austreibung von so etwas wie Kommunismus: dafür erfinden sie Rituale“, sagt Lilienthal, und sein Rat, sich bei „Mausoleum Buffo“ – der ersten Arbeit mit Berliner Basisförderung, eigenem Produktionsbüroanteil und -leiterin Anne Schulz im HAU –, „selbst mehr einzubringen“, setzte das Kollektiv in einen disneyfizierten Schauprozess vorm Lenin-Mausoleum um.

Über ihrer „wichtigsten Arbeit bislang“ beleuchtet der rote Stern am dunklen Bühnenhimmel die Frage, weshalb Kommunisten so viele Kommunisten getötet haben. Mit „Mausoleum Buffo“ und der Einladung zum Impulse-Treffen 2009 war die Kommunismus-Trilogie dann zwar offiziell abgeschlossen, aber „West in Peace“ drängte sich am Jahresende noch als Kapitalismus-Kommentar hinterher. Vielleicht hatte das „Mausoleum“ als durchmusikalisiertes Gesamtcollagewerk auch die größtmögliche Form erreicht, ohne zu erstarren: Das kleine trashige Westernstadt-Setting EL DORADO ist ein Standbild aus dem Freizeitpark, das sich erst nach der 1-Euro-Spende durchs Publikum belebt.

Und die Zukunft? Fürs nächste Jahr haben auch kleinere Stadttheater angefragt: Beim „City Circus. Zero Work“, der Arbeit mit Jugendlichen für „Theaterformen“ 2009, ist das Kollektiv erstmals seinen Mitteln von außen begegnet. Fortgesetzt wird die Kollektiv-Regie mit „Wir Wunderkinder“ in Göttingen, der ersten Arbeit mit Ensemble auf großer Bühne. Und das aktuelle „Fatzer“-Projekt führt sie diesmal nicht ostwärts, sondern nach Brasilien, wo die sich bislang selbst zerfleischende revolutionäre Gruppe um Brechts Antihelden auf kannibalistische Traditionen stoßen wird. Nach dem Auslandsaufenthalt kehrt „Fatzer“ aber nach Mülheim zurück, wo er laut Brecht ja auch hingehört. Und natürlich ins HAU, FFT und nach Münster: Genauer in die Reihe „Geschichten für ein neues Jahrhundert“ im Pumpenhaus. Bei Temponauten kommt Neues nie ohne Altes.

www.kultiversum.de

HANDLUNG, ABGESCHLOSSENE

Alexander Karschnia, 100 Jahre Hebbel-Theater; angewandtes Theaterlexikon nach Gustav Freytag, 2008-01-29

Herzstück des dramatischen Theaters (5-Akt-Motor), traditionelles Organisationsprinzip szenischer Vorgänge in Verlaufsform, somit gleichermaßen Kategorie von Poetik und Kriminalistik (die Tat eines Täters als vom Willen gesteuertes menschliches Verhalten) und fundamentalistische Glaubensvorstellung Alt-Europas vom Autorgott als Schöpfer eines Werkes („Und er sah, dass es gut war“, usw.) Teleologie ist die Theologie des Theaters: Fin de Partie, das Endspiel ist aus, Apocalypse WOW! Jeder fünfte Akt ist ein Akt der Gewalt, jeder Abschluss ein Ausschluss (von Nebenpersonen, -handlungen, -widersprüchen). „Jede Handlung“, schreibt John Holloway, „wie individuell sie auch immer zu sein scheint, ist Teil eines Chors des Tuns, in dem die gesamte Menschheit der Chor ist.“ (Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2006, S. 39) Am Anfang war zwar die Tat, aber die Tat hatte nicht einen Täter, sondern mehrere. Ein „Fluss des Tuns“, geht durch Zeit & Raum, der zerbrochen wird durch die Trennung von Tun und Getanem, Produktion und Produkt. „Die Trennung ist das Alpha und Omega des Spektakels.“ schreibt Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 23) Eine Wand steht zwischen dem Spektakel und den Zuschauern, Spectators, doch bedarf es nur eines kleinen eingeschmuggelten Buchstabens, um aus ihnen Spectactors zu machen: „Zuschauspieler“ – Akteure, Handelnde. Und schon befindet sich alles wieder im Fluss… Nun deutet der Doppelsinn des Stichworts (Laden oder Geschäft, verriegeltes) schon auf die ökonomische Basis des Betriebs und sein mögliches Ende durch Konkurs, Boykott oder Verweigerung der Dienstleistung. Ende der Vorstellung: Der Vorhang fällt, aber keiner geht nach Haus. The Überbau strikes back, das Spiel kann weiter gehen. Auf zum letzten Gefecht!

www.hebbel-am-ufer.de