FatzerBraz in São Paulo: Müller gefressen, Brecht einverleibt
Viele Theatermacher träumen davon: mit jedem neuen Stück noch einmal ganz von vorne anzufangen. Der Ideenschmiede andcompany&Co. aus Berlin ist das nun gelungen – in São Paulo. Dort haben die Theaterproduzenten Bertolt Brechts Stück-Fragment in jeder Hinsicht neu erfunden.
Heute Abend ist das Fernsehen da. Mit einer Gesprächsreihe feiert das Internationale Theaterfestival in São Jose do Rio Preto, einer eher kleinen Stadt im Hinterland des brasilianischen Bundesstaates São Paulo, die zehnte Ausgabe des lokalen Theatertreffens. Es geht um zeitgenössische Tendenzen der Theaterkünste. Anfang der Siebzigerjahre hatte das Festival als regionaler Ensemble-Wettbewerb begonnen, seit der Jahrtausendwende mischt es lokale Gruppen mit brasilianischen und internationalen Gästen.
Ein Theater-Ton allerdings wie der von andcompany&Co, einem der quasi hauseigenen Produzenten-Teams im Berliner Theaterkombinat Hebbel am Ufer (HAU), ist auch in weltoffeneren Kreisen der brasilianischen Theaterszene noch gewöhnungsbedürftig. Und so fallen die Fernsehfragen heute Abend zwar neugierig-wohlwollend, aber durchaus kritisch aus. Skeptisch steht man vor allem dem formalen Durcheinander gegenüber, das FatzerBraz prägt. FatzerBraz – das ist der Name, den die andcompany-Kreation des Fragments von Bertolt Brecht trägt.
Prompt haben Nicola Nord und Alexander Karschnia, die beiden andcompany-Protagonisten, ganz viel zu erklären. Dabei klingen sie sehr viel theoretischer, als die Aufführung aussieht. FatzerBraz ist eine rasant bebilderte, extrem verspielte Mixtur aus Kindertheater und Polit-Propaganda, Schnickschnack und Schamanen-Show. Und dies alles auf der Basis von Brechts ziemlich radikaler Fatzer-Fabel, die immerhin von nichts weniger handelt als von Kannibalismus und Opfer, von Welt- und Klassen- und Bürgerkrieg.
Kampf um die Kopeke
Andcompany tritt hier als andcompany&Co. auf. Deshalb sitzen neben Nord und Karschnia einige Brasilianer mit auf der Bühne. Sie haben es merklich leichter, mit dem radikalen Impuls der Brecht-Motive umzugehen – Revolution und Revolte etwa gehören in Südamerika nach wie vor zum selbstverständlichen politischen Instrumentarium. Und hier beginnt auch die Diskussion um die „Brasilianisierung“, die Karschnia und Nord in São Jose do Rio Preto und später im fünf Autostunden entfernten Goethe-Institut von São Paulo führen.
„Brasilianisierung“ bezeichnet hier aber nicht den Verfall sozialer und gesellschaftlicher Sicherheiten, sondern wird verstanden als wachsende Chance in der Krise: für neu gestellte Fragen angesichts unübersehbar ungelöster Grundsatzprobleme. In den Vorstädten von São Paulo, Rio de Janeiro und Salvador ist der „Kampf um die Kopeke“ (wie ihn etwa Gorki und Brecht in Die Mutter beschreiben) blanker Alltag.
Karschnia und Nord sprechen viel von „Anthropophagia“. Diese Kultur-Theorie, kreiert im Brasilien der Zwanzigerjahre, beschreibt eine mögliche Methode der Aneignung des Fremden: Die „Einverleibung des heiligen Feindes“ geht davon aus, dass gerade das Beste des Gegners, also des früheren Kolonialherren, gut genug ist für den neuen Menschen. Metaphorisch betrachtet, „frisst“ die neue Welt die alte auf, scheidet aus, was nichts mehr taugt, nutzt aber alles, was noch Zukunft hat. So geschieht es nun auch mit Brecht.
Wilde Lust am haltlosen Spiel
Für die Gäste der andcompany ist dieses handwerkliche Nachdenken über die Aneignung des Fremden völlig normal; in den Produktionen der Gruppen, aus denen etwa Mariana Senne, Manuela Afonso, Fernanda Azevedo und der uruguayische Musiker Jorge Pena zu Nord und Karschnia, Bühnen-Maler Jan Brokof und Musiker Sascha Sulimma stießen, ist „Anthropophagia“ gang und gäbe. Sennes Ensemble São Jorge de Variedades etwa hat zeitgleich im Festival eine radikale und intelligent verspielte Montage von Texten und Motiven aus Heiner Mülelrs Werk gezeigt, die auf jedem europäischen Festival bestehen könnte – São Jorge und die Regisseurin Georgette Fadel haben Müller „gefressen“.
Alle andcompany-Gäste brachten sehr eigene Ideen mit – und einen leibhaftigen Panzer. In diesem unförmigen Ding aus zusammengenähten Gummistoffen hausen nun für eine Weile Fatzer und Koch, Kaumann und Büsching, die vier Deserteure des Ersten Weltkriegs, die an dessen Ende so lange unentdeckt bleiben wollen, bis sich der Weltkrieg der Nationen zum Bürgerkrieg der Klassen wendet. So weit aber kommt es nicht, denn der neue Mensch ist nicht in Sicht – auch in den Figuren des Quartetts keimen Besitzsucht und Egoismus. Wie die Pappkartons im Bühnenbild des zweiten Teils fällt die Illusion vom Aufstand in sich zusammen. Und Fatzer, der Antiheld, lässt die anderen bei der Nahrungssuche hängen, bringt allerdings danach sich selber den anderen als kannibalisches Opfer dar.
Zu den großen Qualitäten der brasilianisierten andcompany-Version gehört die wilde Lust am haltlosen Spiel mit den grandios-grotesken Motiven dieser Story. Zu den unvergleichlichen Eigenheiten der Produktion gehören der große Mut, die Energie und Hingabe der Ensemble-Gäste – bei den Aufführungen im Herbst in Deutschland wird das Publikum einen Schauspieler-Typus kennenlernen, wie er hier und heute selten wird.