Freier Fall durch die Geschichte
Am DT in Göttingen gibt es mit der „Wunderkinder“-Revue ein turbulentes Deutschlandspektakel
Sie hat genug. Schiebt sich durch die Tür des Eisernen Vorhangs und wendet sich an das Publikum. „Immer dieses Ramba-Zamba-Kabarett“, dieses postmoderne Theater. Lieber muss man erzählen, etwas Menschliches. Die Schauspielerin Anna Schreiber hat ihrer Empörung Luft gemacht und verschwindet. Das Theater im Theater, die Idee eventuelle Kritik vorwegzunehmen, ist ein kluger Schachzug der Macher.
Ramba Zamba, oder die Deutschen feiern die Feste wie sie fallen: Das Regieteam andcompany&Co. setzte im Deutschen Theater in Göttingen seine Uraufführung „Wunderkinder“ mit kreativem Chaos auf die Bühne. Ein komödiantisches Geschichtsspektakel, eine Revue mit Gauklern, in deren Mittelpunkt die aus dem „Wir Wunderkinder“-Film entlehnten ungleichen Freunde stehen: Bruno Tiches, der Wendehals, und Hans Boeckel, der Aufrechte. Der mit dem Machogebaren bleibt oben, der mit dem ehrlichen Doktortitel unten. So ist das Leben.
Auf der Bühne von Jan Brokof spuckt die dreistöckige schwarz-rot-goldene Box mit der Standarte und dem Hakenkreuz hundert Jahre Geschichte aus, und das Publikum rauscht im freien Fall durch die Zeiten – vom Kaiserreich bis in die Jetztzeit. Der Erzähler Wojo von Brouwer bringt die Kommentare auf den Punkt, spult nach vorn, spult zurück, als wär‘s ein Film.
Nur die Gaukler Fellinis spielen weiter, zwischen Witz, Karikatur und Nostalgie bleibt nichts unbelacht: der andere Hitler von Karl Mille erturnt sich wie ein chaplinesker Träumer die Weltherrschaft, und Hans Boeckels Urlaub von der Diktatur wird zu einer brillanten Miniatur des Nichts-Verstehens. Herrlich.
Schade nur, dass die Wirtschaftswunderjahre allzu kurz abgehandelt werden: Die Schauspieler tragen Transparente und jonglieren mit Stichworten, kein Tiefgang, dafür Übersicht. Erst wird man dicker, dann begehrt man auf. Wutbürger sind wir doch alle. Studentenrevolte, RAF, Mauerfall, und die Wendehälse haben es wieder mal geschafft. Da hat man schnell eine „Deutschland-Dämmerung“, schreit eine wütend. Das auch für die Texte verantwortliche Berliner Regieteam zieht alle Register, wartet mit aberwitzigen Bezügen auf. Chapeau.
„Stimmung!“ steht auf dem Programmheft, und davon gab’s genug in der von Hans Kaul musikalisch begleiteten Uraufführung. Nicht zuletzt durch ein furios aufspielendes Ensemble: allen voran das Stehaufmännchen Bruno von Florian Eppinger, sein ehrenwerter Gegenspieler Hans Boekel von Gerrit Neuhaus, Andrea Strubes auftrumpfende Lebenskünstlerin Frau Meisegeier und die niedliche Kirsten von Marie-Isabel Walke. Und wie Lutz Gebhardt als Führer den Bruno Ganz mimt, war schon hinreißend. Applaus nach einem Zwei-Stunden-Geschichtsunterricht der anderen Art. Hier wurden die Schrecken weggelacht.